Zeichnung eines syrischen Kindes, das bei Hemayat behandelt wurde.

Foto: hemayat

Wien – Mit anderen Kindern spielte die vierjährige Muna (Name geändert, Anm.) im Kindergarten nie. Auch sprach und lachte sie nicht, sondern saß still für sich allein da. "Mutismus" lautete die Diagnose für das Verhalten des kleinen Mädchens, das im Flüchtlings-Erstaufnahmezentrum Traiskirchen geboren wurde, nachdem seine Eltern, Akademiker, aus dem Kaukasusstaat Georgien nach Österreich geflohen waren.

Nach einem Jahr, im Verlauf dessen sich an Munas Verhalten nichts geändert hatte, wurde sie von einer Kindertherapeutin im Wiener Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende Hemayat in Behandlung genommen. Unter Anwesenheit je eines Elternteils und einer Dolmetscherin zeigte die Therapeutin Muna sogenannte Gefühlskarten, auf denen Emotionen zeichnerisch dargestellt sind. Die Therapeutin ließ Handpuppen Geschichten erzählen und setzte eine Blechtrommel mit unterschiedlichen Lautstärken ein.

Erfolge schon in der fünften Stunde

Nach wenigen Stunden begann Muna beim Zuschauen zu lächeln. In der fünften Stunde ging sie aus eigenem Antrieb zu der Therapeutin und kommentierte das Puppenspiel auf Deutsch und Georgisch. Nach der 16. Stunde rief die Kindergärtnerin bei der Therapeutin an: Die Vierjährige habe begonnen zu sprechen und mit den anderen Kindern zu spielen.

Muna habe die Belastung ihrer Eltern in sich aufgenommen und deshalb lange keine Lebensfreude entwickeln können, kommentiert dies die Psychotherapeutin Sonja Brauner, eine der Mitgründerinnen des Betreuungszentrums Hemayat.

Ohne Behandlung droht Chronifizierung

An dem Fall des kleinen georgischen Mädchens, dessen Eltern außerdem bald nach Therapiebeginn subsidiären Schutz erhielten und rasch Jobs fanden, zeige sich aber auch, wie schnell bei manchen Kindern durch rasch einsetzende Therapie Hoffnung und Mut wiedergeweckt werden könnten – während ohne Behandlung Schulunfähigkeit und Chronifizierung wahrscheinlich seien.

Muna ist eines von insgesamt 237 Kindern und Jugendlichen, die 2017 bei Hemayat behandelt wurden. 18 Prozent der Klientinnen und Klienten der Beratungsstelle seien inzwischen Minderjährige, sagt Hemayat-Sprecherin Alexia Gerhardus. Seit Gründung der Stelle vor 20 Jahren habe deren Anteil immer weiter zugenommen.

Listensystem mit drei Rufzeichen

88 unter 18-Jährige befänden sich derzeit auf der Liste, manche müssten bis zu ein Jahr lang auf den Therapiebeginn warten. "Alles spielt sich im 'Dringendbereich' ab, es gibt ein System von ein bis drei Rufzeichen auf der Liste", sagte Hemayat-Geschäftsführerin Cecilia Heiss bei einem Pressegespräch am Donnerstag in Wien.

Die minderjährigen Klientinnen und Klienten von Hemayat kamen 2017 am häufigsten aus Afghanistan, gefolgt von Syrien, Tschetschenien, dem Iran, Irak und Somalia. Aus Somalia etwa kommt Samar (13, Name geändert, Anm.), die vor Therapeutin Brauner beim Erstgespräch überraschend den Pullover hob und eine lange Narbe an Rücken und Hüften entblößte.

Abgespaltene Traumata

Scheinbar emotionslos erzählte sie, wie sie auf einem Markt von einem Granatsplitter getroffen worden sei, ihr neben ihr laufender Bruder sei dabei getötet worden. Abgespaltene traumatische Erlebnisse seien bei dem Behandelten häufig, sagt Brauner – und meist Zeichen einer tieferen Traumatisierung.

2017 hat Hemayat insgesamt 1.309 Menschen aus 53 verschiedenen Ländern betreut. Die Kinder- und Jugendtherapien schlugen mit 188.000 Euro zu Buche. Um die wartenden 88 Minderjährigen je zehn Stunden zu behandeln, bräuchte es laut Gerhardus zusätzliche 70.000 Euro. Hemayat wird zu 65 Prozent von Spendern, darunter größeren Geldgebern wie Ärzte ohne Grenze, sowie zu 35 Prozent aus öffentlichen Mitteln, etwa aus dem Innenministerium sowie dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU finanziert. (Irene Brickner, 15.3.218)