Erste Philosophievorlesung. Ein Student hat eine liebevoll gepflegte Topfpflanze auf dem Tisch stehen. Warum?

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Meine erste Philosophievorlesung. Die Professorin schreibt mit Kreide an eine Tafel. Es gibt viele ältere Studierende. Einige haben ein Handy mit Tasten. Einer hat eine liebevoll gepflegte Topfpflanze auf seinem Tisch stehen. Niemand trägt einen BH. Manche riechen komisch. Die Quereinsteiger aus dem Management verfallen beim Anblick der vielen Dreadlocks in einen mittelschweren Kulturschock. Sie sind leicht zu erkennen. Keiner sonst hat gezupfte Augenbrauen und einen Fitnesstracker. Kalter Schweiß steht ihnen auf der blassen Stirn. Er lässt erahnen, welche Anstrengung es sie kostet, dem Drang zu widerstehen, die Vorderfrau zu frisieren. Jede Filzlocke wollen sie genau analysieren. Dann entwirren. In Substränge zerpflücken und nach dem Top-Down-Prinzip lösen. Wie einen Business-Case. Dann einen strengen Dutt frisieren. Einen perfekten Knoten, dessen Form sich jedes einzelne Haar ordnungsliebend unterwirft. Einen straffen Dutt, der so fest sitzt, dass er an der Kopfhaut zieht wie ein Facelift. Oh, was für eine Befriedigung das wäre. Kurz bevor die Manager anfangen, die Rebellischen glattzufrisieren und zu striegeln, beginnt die Vorlesung.

Alles ist Philosophie

Philosophie fängt schon bei den technischen Rahmenbedingungen an. Die Professorin will die Unterlagen nicht auf Moodle online stellen, weil sie eine grundsätzliche Aversion gegen die Onlineplattform hat – macht es ihr diese doch möglich, genau einzusehen, wer das System wie oft frequentiert und welche Materialien herunterlädt. Das ist ein Maß an Überwachung und Kontrolle, mit dem sie sich nicht wohlfühlt. Die Performance-Analysts wollen sich ihre gelfrisierten Haare jetzt schon ausreißen.

Überhaupt ist der Professorin der Effizienzwahn der heutigen Studienkultur zuwider. Wenn sie "effizient" sagt, zieht sie angewidert den rechten Nasenflügel hoch. Ich kenne diesen mimischen Ausdruck. So schauen die Wirtschaftsprofessoren drein, wenn sie "philosophisch" oder "sozial-romantisch" sagen. Sie zitiert Goethe: "Ich bin nur durch die Welt gerannt." Keiner stellt sich mehr der ernsthaften Auseinandersetzung mit substanziellen Themen. Alle hetzen nur von einer Blockveranstaltung zur nächsten, sammeln ECTS wie Super Mario die Schwammerln.

Tiefe im Sinnlosen

Meine Frage, wo das Student-Ranking eingesehen werden kann, wirkt plötzlich unpassend. Am liebsten sind ihr die Studierenden, die nicht zur Lehrveranstaltung angemeldet sind und keine Intention verfolgen, die Prüfung abzulegen. Die, die nur um des Denkens willen da sind. Im Sinnlosen entsteht die Tiefe, sagt sie. Und meint damit wohl das tiefe Loch in der Finanzierung. Der Tiefgang im Sinnlosen ist nämlich teuer. Auch in der Wissenschaft. Wozu soll die Erforschung des Higgs-Bosons eigentlich gut sein? Mit welcher Profitaussicht rechtfertigt das Kernforschungszentrum den Einsatz derartiger Forschungsbudgets? Im Cern sagt man dazu: "Keine Ahnung. Grundlagenforschende wissen einfach nicht, welchen Nutzen ihr Projekt irgendwann schaffen kann." Radiowellen wurden auch entdeckt, bevor es einen Radio gab. Die Forschung fragt nicht nach Ergebnissen und Profit. Sie forscht um des Forschens willen.

Der Dämon Homo oeconomicus

Von der Philosophie der Lernplattform gehen wir über zu Ethik, Moral, Feminismus und Demokratie. Wir hinterfragen die Grundannahmen des Menschenbilds und des rationalen Verhaltensmodells. Wir rütteln an den Grundfesten des Kapitalismus und am Weltbild der Wirtschaftler. "Der Mensch ist mehr als ein Nutzenmaximierer." Die Fitness-Tracker der Manager schlagen kollektiv Alarm. Sie kriegen Herzrasen und fangen an zu zittern, als ihnen die Illusion des Homo oeconomicus wie ein Dämon aus dem Hirn fährt. "Menschen haben keine rein egoistische Präferenzordnung, sie sind interessiert an guten Beziehungen, Moral und Gerechtigkeit." Gesicht und Arme zucken unkontrolliert, der ganze Körper versteift.

"Das ökonomische Modell verkürzt den Menschen auf kühle Rationalität." Ihre Schädeldecke öffnet sich, der Geist des Homo oeconomicus kriecht heraus und klopft an die gelverklebte Haarplatte. "Die Menschenwürde beruht nicht auf einem utilitaristischen Kalkül." Verkrümmtes Krampfen. Verdrehte Augen. Vermehrter Speichelfluss. "Der Mensch ist kein bloßer Kosten-/Nutzen-Faktor." Sie winden sich auf ihren hölzernen Klappstühlen, während der Homo oeconomicus durch die Gelkruste bricht, entweicht und die Manager desillusioniert zurücklässt.

Mit offener Schädeldecke verlassen die Manager den Hörsaal nach der ersten Vorlesung. Dabei haben wir noch nicht einmal angefangen, die gut gepflegte Topfpflanze auf dem Tisch des Kollegen zu hinterfragen. (Carina Sitz, 19.3.2018)