Wien – Der greise Herbert von Karajan warf ihm mit tränenschimmernden Augen eine Kusshand zu, als ihm der junge russische Pianist in Salzburg erstmals im Familienkreis vorgespielt hatte. Der Tod wartete dann freundlicherweise noch etwas zu, bis der Dirigent mit dem "Genie" (Karajan zu Kissins Mutter) Tschaikowskys erstes Klavierkonzert in überwältigender Weise aufgeführt hatte.

Der russischen Romantik und Spätromantik ist Jewgeni Kissin treu geblieben, bei seinem Soloabend im Großen Musikvereinssaal spielte er in der zweiten Programmhälfte ausgewählte Préludes von Sergej Rachmaninow (Nr. 1–7 aus op. 23 und Nr. 10, 12 und 13 aus op. 32). Natürlich bot der 46-Jährige bei der Interpretation der kleinen Stücke großes Kino: Großes Leid trat mit Opulenz und Grandezza auf, Gefühlsströme flossen in Breitband, und Wehmut schimmerte edel und golden wie eine byzantinische Kirchenkuppel.

Mit zartem Heiligenschein

Im bekannten g-Moll Prélude op. 23/5 nahm Kissin das Alla marcia wörtlich und exerzierte den ersten Teil stramm durch; wundervoll, wie er zuvor in Nr. 4 die melodische Hauptlinie mit einem zarten Heiligenschein der Begleitung umhegte. In seiner Interpretation der Préludes könnte man den Pianisten Kissin auch als Maler beschreiben, der die großen Schlachtengemälde genauso draufhatte wie die intimen Porträts, der Hintergründe und Hauptfiguren in eine ideale Relation zu setzen verstand, der starke Farbakzente und zarte Sfumato-Töne mit kundigen Fingern mischte.

In seinem zurückliegenden Sabbatical hat Kissin unter anderem geheiratet und sich mit Beethovens Hammerklavier-Sonate beschäftigt; einen Monat nach Pierre-Laurent Aimard spielte nun also auch der Russe Beethovens sperriges Monument im Musikverein. Friedrich Nietzsche meinte in dessen Opus 106 ja "den ungenügenden Klavierauszug einer Sinfonie" zu erkennen, aber wenn einer mit Leichtigkeit ein komplettes Orchester am Klavier ersetzen kann, dann ist das Jewgeni Kissin.

Kundiger Erzähler

Denn der erwies sich als eindringlicher, feinfühliger und kundiger Erzähler, der die ganze Stimmenvielfalt des Werks zu sinnlichem Leben erweckte. Nach dem bewegenden Adagio packte der Schlusssatz: Kissin stieß die Sforzati-Eröffnungen der Triller wie Pickel in die Substanz des Werkteils und stieg so mit verblüffender Sicherheit und Virtuosität durch diese Eiger-Nordwand in Beethovens Klavierschaffen. Stehender Beifall, vier Zugaben. (Stefan Ender, 16.3.2018)