Wie färbte die fast sieben Jahre währende Ära von Wolfgang Schüssel auf die damals Heranwachsenden, heute oft "Millennials" oder "erste Generation von Digital Natives" genannt, ab?

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Er war der erste Kanzler, der sich in ihr kollektives Gedächtnis eingeprägt hat. Denn zur Jahrtausendwende kamen selbst die apolitischsten Teenager an diesem Mann kaum vorbei: Über Wolfgang Schüssel wurde in Österreichs Wohnzimmern im besten Fall viel diskutiert, im schlimmsten Fall arg gestritten.

Zur Hauptsendezeit gab es im Fernsehen wochen- und monatelang nur ein Thema: zuerst, dass sich der bei der Nationalratswahl 1999 eigentlich drittplatzierte ÖVP-Obmann, trotz anderslautenden Versprechens, durch ein Regierungsbündnis mit der FPÖ zum Kanzler aufgeschwungen hat. Schon wenig später flimmerten dann über die damals noch wuchtigen Bildschirme die Szenen von wütenden Demonstrationen auf dem Ballhausplatz – und der marktbeherrschende Öffentlich-Rechtliche aka ORF berichtete unablässig von EU-Sanktionen gegen die erste schwarz-blaue Koalition.

Wie färbte die fast sieben Jahre währende Ära von Wolfgang Schüssel auf die damals Heranwachsenden, heute oft "Millennials" oder "erste Generation von Digital Natives" genannt, ab? Für ältere Semester, drei Jahrzehnte zuvor geprägt durch einen sozialdemokratischen Kanzler nach dem anderen, war der Bürgerliche entweder ein gewissenloser Regent oder ein visionärer Reformer – differenzierte Einschätzungen über Wolfgang Schüssels Machtergreifung samt ihren Folgen waren einst rar.

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Der Millennial setzt gern auf klassisch-konservatives Outfit, meist mit einem Touch Extravaganz. Die Frisur muss mitunter Kanzler-like sitzen. Trotzdem wählt er oft Neos und gründet ein Start-up.
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Fest steht jedenfalls, dass zum heurigen Jahreswechsel der erneute Pakt mit der FPÖ, diesmal von ÖVP-Chef Sebastian Kurz, Jahrgang 1986 und quasi prominentester politischer Nachwuchs von Wolfgang Schüssel, keine Hunderttausende von jungen Gegnern auf die Straßen getrieben hat – im Gegenteil.

Laut Wählerstromanalyse der Nationalratswahl im Herbst verfügt die dritte Auflage der ÖVP-FPÖ-Koalition unter den in den Achtzigerjahren Geborenen über großen Rückhalt. Denn am 15. Oktober haben in dieser Altersklasse für Türkis, wie sich das neue Schwarz jetzt nennt, sowie Blau jeweils satte dreißig Prozent votiert – und für Rot nur 20 Prozent, wie der Politologe Peter Filzmaier vorrechnet.

Allerdings laut dem Experten auch bemerkenswert: dass sich viele einstige Bürgerkinder beim letzten Urnengang in signifikant hohem Ausmaß lieber den Neos und den Grünen zugewandt haben – jeweils bis zu zehn Prozent machten dort ihr Kreuz. Damit hätten die Endzwanziger bis zu den knapp Vierzigjährigen die parlamentarischen Kräfteverhältnisse doch recht anders verteilt, als sie derzeit im Nationalrat gegeben sind.

Stockkonservativ, aber auch liberal oder bürgerlich-urban

Die Kinder unter der einstigen Regentschaft von Wolfgang Schüssel sind also keineswegs allesamt so stockkonservativ, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Doch sie teilen in überproportionalem Ausmaß einige Werte, wie sie der Wendekanzler ständig predigte – wenn er denn sein oft recht langes Schweigen zu den koalitionären Vorgängen einmal gebrochen hat.

Als unvergessen gilt etwa Wolfgang Schüssels Credo "Mehr privat – weniger Staat", das nicht nur der in die Jahre gekommenen verstaatlichten Industrie, sondern auch dem unter roten Kanzlern geschaffenen Wohlfahrtsstaat als Kampfansage dienen sollte. Während unter dem absoluten Sonnenkönig Bruno Kreisky explizit lieber Schulden statt Arbeitslose in Kauf genommen wurden, herrschte unter dem schwarzen Kanzler ab sofort auch das Dogma des Nulldefizits, also Sparpolitik als Staatsziel.

Und für Wolfgang Schüssel ebenfalls unabdingbar: eine Reform des Pensionssystems. Ab sofort waren die Bürger auch dazu angehalten, hier am besten Eigenvorsorge zu treffen, anstatt einfach in der "sozialen Hängematte" Platz zu nehmen, wie es in bürgerlichen Kreisen oft hieß. Diese Politik blieb bis heute nicht ohne Wirkung.

Kurz twittern statt lange politisieren

Ein Schelm, wer dabei an Wolfgang Schüssels Nachfolger Sebastian Kurz oder auch seinen Kanzleramtsminister Gernot Blümel denkt? In ihren spärlich dosierten Auftritten geben die beiden nun gern gebetsmühlenartig zum Besten, wer "Leistung beziehen" wolle, müsse "zuerst Leistung erbringen". Zwischendurch werden dann, selbst bei argem Knirschen in der Koalition, nur ab und zu einige staatstragend klingende Sätze getwittert, freilich stets mit urcoolem Hashtag versehen.

"Durchschummlern" will der junge Kanzler bald durch ein Umkrempeln des Arbeitslosengeldes samt Auflösung der Notstandshilfe zusetzen – obwohl eigentlich selbst noch nie lange in einem Job in der Privatwirtschaft gefordert. Fakt ist jedoch, dass die Digitalisierung nicht nur Arbeitnehmern über fünfzig zunehmend Probleme macht, sondern auch die Digital Natives längst vor neue Herausforderungen stellt.

Während in den Kreisky-Jahren quasi Vollbeschäftigung herrschte und man als Berufseinsteiger bis in die tiefen Neunzigerjahre vor allem Vollzeitstelle plus Rundum-Sozialversicherung anstrebte, muss sich ein junges Prekariat heute mitunter mit flexibel verordneten Arbeitszeiten und höchst unsicheren Jobs herumschlagen. Bessergestellte Millennials hingegen, oft aus gut situiertem Elternhaus, arbeiten oft längst lieber Teilzeit, um sich von der Arbeit nicht ganz auffressen zu lassen. Oder aber betreiben als Selbstständige sogar gleich mehrere Jobs nebeneinander – und das dank der weltweiten Vernetzung auch zu ungewöhnlichen Zeiten, also auch an Wochenenden und womöglich sogar noch in der Nacht.

"Diese Generation entspricht durchaus dem erwünschten Leistungsdenken – doch es ist ihr nicht mehr wichtig, jeden Tag zu regulären Zeiten am ständig gleichen Dienstort zu erscheinen", erklärt Experte Peter Filzmaier. Und: Gerade dieses Wählersegment würden "vor allem auch die Neos höchst erfolgreich" bedienen.

Starke Ich-AG statt soziales Gewissen

Einst als schwarzer Ableger belächelt, vermochte es Matthias Strolz, hemdsärmeliger Boss der Neos, im Herbst erneut genug junge Ex-ÖVP-Wähler sowie heimatlos gewordene Grüne für seine Partei zu gewinnen. Das sicherte den Neos den Wiedereinzug ins Parlament. Unter Wolfgang Schüssel parlamentarischer Mitarbeiter für die ÖVP, drängt der pinke Parteigründer trotz guter Konjunkturlage in Altkanzlermanier bis heute auf eine Schuldenbremse im Verfassungsrang, eine umfassende Pensionsreform und eine Beseitigung der Kammernpflichtmitgliedschaft. Im Vorjahr hat er sogar mit dem nunmehrigen ÖVP-Chef über ein mögliches Wahlbündnis verhandelt, wozu es allerdings nicht kam. Was seine Politik überhaupt von jener der beiden neokonservativen ÖVP-Kanzler unterscheidet?

Dazu Matthias Strolz, Jahrgang 1973, schlagfertig im für ihn typischen Stakkato: Von der ÖVP trenne die Neos garantiert "die zwänglerische Leistungsschau". Vielmehr gehe es um "bessere Möglichkeiten der Entfaltung" für die eigene Wählerschaft und eigentlich für alle. Generell hält der Neos-Chef Sebastian Kurz für einen, der "keinesfalls von einem bürgerlichen, sondern vielmehr von einem opportunistischen, weil allzu populistischen Leitstern geführt" werde.

Anders als der junge Regierungschef mit seinen 31 Jahren habe Wolfgang Schüssel einst ein Gesamtkonzept für die Republik verfolgt, meint Matthais Strolz. Sebastian Kurz gehe es vor allem um bloße Machtausübung, obwohl es bei dessen politischem Talent durchaus "christlich-soziale Pflicht" wäre, auch für Schwächere und Benachteiligte im Land einzutreten. Denn: "Jede Gabe ist eine Aufgabe!", erklärt der oberste Neos, der bekanntlich am liebsten jedem Kind Flügel verleihen würde.

Kleines Glück statt große Befreiung

In dieselbe Kerbe schlägt die ehemalige grüne Frauensprecherin Berivan Aslan, Jahrgang 1981, im erzschwarzen Tirol in einer Migrantenarbeiterfamilie aufgewachsen und seit dem Rausflug der Grünen aus dem Nationalrat in ihrer Partei ohne Gehalt aktiv: Sie höre von Sebastian Kurz' Koalition ständig "Leistung, Leistung, Leistung", kritisiert sie, doch das sei vor allem als "Aufruf zur Anpassung" zu verstehen – abweichende Lebensläufe würden bei dieser Politik kaum berücksichtigt.

In den späten Neunzigerjahren war sie als Schülervertreterin aus ihrem Gymnasium "freundlich-subtil" hinauskomplimentiert worden – weil sie es im heiligen Land von Andreas Hofer gewagt habe, einmal die Ideen von Karl Marx zu loben, erzählt Berivan Aslan. Damit habe sie schon bald quasi als Bürgerschreck gegolten.

Für den Nachwuchs aus anders gestrickten Familien, die sich oft mit Existenzsorgen plagen, werde sich auch künftig wenig ändern, fürchtet sie. Denn Regierungsziel sei keineswegs, dass diese junge Menschen eines Tages "auf Augenhöhe mit den Rich Kids in der ÖVP" kommen, meint die studierte Juristin. Lieber spiele man sich dort als oberster Sparmeister bei Langzeitarbeitslosen oder Flüchtlingen auf.

Teurer Slim-Fit statt billiger Streetstyle

Die neue schicke Bürgerlichkeit wiederum, die gern in Slim-Fit-Anzügen und mit frischen Visitenkarten als Start-up-Gründer daherkomme, ist aus Berivan Aslans Sicht aber leicht vorzuweisen – wenn man das Startkapital für solche Unternehmen häufig "vom Herrn Papa oder der Frau Mama" erbe.

Die liebe Familie habe für die Millennials übrigens bis heute übergeordneten Stellenwert, analysiert Peter Filzmaier. Und das, obwohl deren Eltern heute häufig geschieden sind. Wie von Wolfgang Schüssel oft genug demonstrativ präferiert, leben die heutigen Thirtysomethings wieder gern die traditionelle Rollenverteilung. "Zwar nicht mehr mit zwei Kindern, einem Hund und einer Katze – aber fast", sagt der Politologe. Vermehrt gingen immer noch nur die Frauen in Karenz und dann auch in Teilzeit. Bloß der früher obligate Trauschein und der Ehering zählen heute weniger. Peter Filzmaier: "Die religiöse Bindung ist weg."

Vielleicht dankte man in der ÖVP nach Sebastian Kurz' Wahlsieg mit knapp 31,5 Prozent deswegen auch nicht dem "lieben Gott" – wie noch anno 2002, als Wolfgang Schüssel nach dem Bruch von Schwarz-Blau I satte 42 Prozent einstreifte. Diesmal galt das Lob bei der Wahlparty im Wiener Kursalon Hübner ausdrücklich auch der "Jot-Vau-Pe", wie sich die Parteijugend mit beachtlichen 100.000 Mitgliedern nennt. Weil die meisten von ihnen für ihren neuen Säulenheiligen wochenlang landauf, landab gelaufen sind. (Nina Weißensteiner, Jahrgang 1972, 17.3.2018)