113 Jahre Filmgeschichte, kondensiert aus Filmausschnitten von Sternen: Johann Lurf schaut lange in den Himmel.

Sixpackfilms

Vier Brüder in Porto, die sich der Lücke durch den verstorbenen fünften stellen: Stefan Bohuns "Bruder Jakob, schläfst du noch?".

Mischief Films

Formales Verwirrspiel um Macht: "Gatekeeper".

Lawrence Tooley

Graz – Anfang und Ende der Diagonale formten in diesem Jahr einen Kreis. Das lag nicht nur daran, dass mit Christian Froschs Justizdrama Murer – Anatomie eines Prozesses der Eröffnungsfilm des Festivals für den österreichischen Film verdient mit dem Großen Spielfilmpreis ausgezeichnet wurde. Froschs mit analytischem, präzis gestaltendem Blick verfahrende Arbeit um ein skandalöses Kapitel Vergangenheit – die Freisprechung des NS-Kriegsverbrechers Franz Murer 1963 in Graz – gab dem insgesamt politisch hellhörigen Festival den Ton vor. Die Frage, wie heimische Filmschaffende auf die Herausforderung einer zunehmend polarisierten Gesellschaft reagieren, stand öfters im Raum.

Die Antworten überzeugten vor allem dann, wenn der Wille zum Dialog dazu beitrug, Begegnungen, Annäherungen zu gewähren. Ein Dokumentarfilm wie Zu ebener Erde (Regie: Birgit Bergmann, Steffi Franz, Oliver Erwani) gelingt dies durch die Begleitung von Obdachlosen, also all jener, an denen wir gewohnheitshalber vorbeigehen. Das Auge wird auf eine Weise für Lebensbedingungen in den Nischen des Stadtraums sensibilisiert, die an die Tradition der sozialen Dokumentarfilmschule der 1930er-Jahren anknüpft.

Sinn für Differenzierung

Einer ihrer Proponenten, der Brite John Grierson sagte einmal, ein Dokumentarist müsse Gentleman und Sozialist sein. Nikolaus Geyrhalter hat dies in Die bauliche Maßnahme auch beherzigt – freilich nicht streng politisch. Seit einiger Zeit rücken die Filme des profilierten Regisseurs näher an die Menschen heran. Der mit dem Großen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnete Film erinnert gar an die Volksnähe eines Pier Paolo Pasolini, wenn er anhand der Befragung Einheimischer rund um den Brenner-Pass beweist, wie viel Differenzierungssinn man erntet, wenn man Bürgern genau zuhört. Dies räumt nicht nur mit eigenen Vorurteilen auf, sondern es demonstriert, wie mit medialen Pauschalisierungen umzugehen wäre.

Geyrhalterfilm

Die Annäherung kann aber auch auf rein privater Ebener erfolgen wie in Stefan Bohuns Bruder Jakob, schläfst du noch?, einem der feinfühligsten und gewieftest komponierten Dokumentarfilme dieser Diagonale. Der Regisseur begibt sich gemeinsam mit seinen drei Brüdern auf eine Reise, die sie mit ihrem inneren Zusammenhalt, aber auch latenten Unstimmigkeiten konfrontiert. Der Anlass: Jakob, der fünfte, nahm sich das Leben.

Bruder Jakob, schläfst du noch? kommt trotz dieses schwermütigen Themas ohne Sentimentalitäten aus. Auf einer Bergtour ins Lareintal, später dann noch bei einer Reise nach Porto – Jakobs letztem Wohnsitz – inszeniert Bohun das Bonding und die Selbstbefragung der Brüder und bricht die Settings zugleich auch spielerisch auf. Trauerarbeit heißt hier: Gemeinschaftssinn erproben.

Emphatischer Blick

Als eines der ambitioniertesten Debüts erwies sich Alexandra Makarovás Zerschlag mein Herz. Die im slowakischen Kosice geborene Regisseurin erzählt in ihrem Spielfilm die Geschichte eines Mädchens und eines Burschen, die als Roma in Wien für den Schutzherrn des Clans arbeiten müssen: Während Pepe als Bettler durch die Straßen zieht, entgeht die aus dem Heimatdorf angereiste Marcela nur deshalb dem Strich, weil ihr "Beschützer" sich in sie verliebt – und die arrangierte Heirat einfordert.

Zerschlag mein Herz verbindet seine Romeo-und-Julia-Erzählung mit einem poetischen Realismus, wie man ihn im heimischen Kino sonst kaum sieht. Makarová verzichtet wohlweislich auf die Darstellung expliziter Gewalt und behält sich damit die Möglichkeit eines empathischen Blicks vor. Getaucht in kräftige, bunte Farben haftete dieser Geschichte einer verunmöglichten Liebe etwas Märchenhaftes und zugleich Surreales an – so wie ein Traum, von dem man bereits im Schlaf weiß, dass er nicht wahr sein kann.

Verwirrspiel und Machtstudie

Ein Hang zum Absurden hingegen ist Loretta Pflaum und Lawrence Tooley (Headshots) nicht abzusprechen: Gatekeeper, so der mysteriöse Titel, dessen Kafka-Bezug sich erst am Ende auflöst, ist ein formales Verwirrspiel, in dem Pflaum als Galerienbesitzerin sich nach einem Unfall einen rumänischen Gast in ihrer Luxuswohnung hält. Gatekeeper wirkt wie eine Gesellschaftsstudie über ökonomische und sexuelle Macht, bei der sich die Figuren wie Probanden lustvoll und unausweichlich ineinander verstricken.

Dass die Distanzüberwindung noch weiter reichen kann, beweist der mit dem Preis für innovatives Kino bedachte ★, der schon auf dem Filmfestival von Sundance lief. Johann Lurf hat nach ausgiebiger Recherche Sternenbilder der Filmgeschichte von 1905 bis in die Gegenwart aneinandermontiert. Erlaubt war nur, wo im Bild nichts anderes als Gestirn zu sehen war. Der Ton freilich erzählt in dieser die Vorstellungskraft munter ankurbelnden Collage auch davon, wie die Menschheit da oben schon immer sich selbst in Verhältnis zur Ewigkeit setzte. So wird das Kino zum Mittel, noch das Unendliche ein Stück greifbarer zu machen. (Dominik Kamalzadeh, Michael Pekler, 19.3.2018)