Nach acht Wochen Krieg hat die türkische Armee mit ihren Verbündeten am Sonntage die Stadt Afrin eingenommen. Der Krieg um Afrin ist damit noch nicht zu Ende, allerdings wohl vorerst entschieden.

Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Der Kurdische Rote Halbmond ruft verzweifelt zu Spenden auf. Die Bilder, die die islamistischen Verbündeten aus Afrin über Twitter in die Welt schicken, sind eindeutig. Nicht nur die Statuen der Kurden werden geschliffen, sondern man posiert auch gern mit dem erhobenen Zeigefinger, den auch der IS zu seinem Markenzeichen machte. Türkische Fahnen und Symbole islamistischer Milizen werden gemeinsam gehisst. Seit Wochen ist schon bekannt, dass auch ehemalige IS-Kämpfer in den Reihen der türkischen Verbündeten mitkämpfen.

Am Sonntag hat die Türkei Afrin eingenommen.
Foto: APA/AFP/OMAR HAJ KADOUR

Religiöse Minderheiten gefährdet

Besonders gefährdet sind dieser Tage die Angehörigen der religiösen Minderheiten in der Region, die seit Jahrhunderten als "Kurd Dagh", als "Berg der Kurden" bezeichnet wird. Zwar sprechen hier weit über 90 Prozent der Bevölkerung Kurdisch, die Region ist aber von großer religiöser Vielfalt geprägt. In Afrin gibt es eine Gemeinde kurdischer Christen. In den Dörfern im Osten und Süden der Region leben viele Jesiden und am Samstag fiel auch die Kleinstadt Mabeta in die Hände der Türkei und der islamistischen Milizen. In Mabeta und einigen Dörfern der Umgebung leben – oder lebten? – rund 10.000 Aleviten. Wann diese in die Region kamen, weiß niemand. Ein Teil der Bevölkerung stammt allerdings auch von Überlebenden der Massaker von 1915, bei denen nicht nur Armenier, sondern auch andere religiöse Minderheiten verfolgt wurden. Die letzte Fluchtbewegung von Aleviten nach Afrin fand vor 80 Jahren statt. Damals kamen Überlebende der Massaker aus Dersim nach Mabeta. 1938 hatte die türkische Armee dort ein Massaker gegen die Aleviten angerichtet. Die ganze Region war danach zehn Jahre gesperrt. Nachkommen jener, die damals in das französische Protektorat Syrien flüchteten, flüchten jetzt wieder von der türkischen Armee.

In gemischten Dörfern, die von der türkischen Armee und ihren Verbündeten erobert wurden, berichten muslimische Augenzeugen mittlerweile, dass die jihadistischen Milizen gezielt nach Häusern von Jesiden fragen und nach Jesiden suchen, die noch nicht geflüchtet sind. Gerüchte über Entführungen und Tötungen von Jesiden konnten noch nicht mit Sicherheit bestätigt werden. Sicher ist jedoch, dass sie mit dazu beitrugen, dass die Bewohner der letzten größeren jesidischen Enklave in Syrien sich fast ausnahmslos auf der Flucht befinden. Zu wach sind noch die Erinnerungen an 2014, als der IS im Irak die Jesiden massakrierte und jesidische Frauen entführte und vergewaltigte.

Milizen feiern die Eroberung der syrischen Stadt.
Foto: AP/Hasan Kirmizitas

Ethnische Säuberungen?

Was sich in den Dörfern genau abspielt, weiß derzeit niemand. Im Zentralraum des kurdischen Kantons Afrin beherrschen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten noch einige Dörfer. Im Südosten der Region ebenso. Hier begann am Samstag die syrische Armee nachzurücken. Währenddessen fürchten die flüchtenden Kurden ihre Heimat nie wieder zu sehen. 

Die Türkei hat von Anfang an klar gemacht, dass ein Ziel des Kriegs gegen Afrin, die "Rückführung" von einer halben Million syrischer Flüchtlinge nach Afrin darstellt. Präsidentengattin Emine Erdoğan hatte bereits Mitte Februar öffentlich in einer Rede in Istanbul davon gesprochen, dass nach der türkischen Eroberung Afrins "eine halbe Million Syrer nach Afrin zurückkehren" sollen. Aus Afrin gab es allerdings bis zum Angriff der Türkei auf die kurdische Enklave kaum Flüchtlinge. Die 500.000 Syrer, die die Regierung in Ankara nach Afrin ansiedeln will, stammen aus völlig anderen Teilen Syriens und sind keine Kurden, sondern überwiegend Araber.

Zur Irreführung der internationalen Öffentlichkeit hatte Erdoğan persönlich schon im Vorfeld der Arabisierung und Turkisierung der Region entgegen jeglicher Realität behauptet, dass Afrin in Wirklichkeit zu 55 Prozent von Arabern bewohnt wäre und nur zu 35 Prozent von Kurden und sieben Prozent von Turkmenen, gefolgt von der Ankündigung, das Land "seinen rechtmäßigen Bewohnern zurückgeben" zu wollen.

Wie geht es mit Afrin weiter?
Foto: Thomas Schmidinger

Arabisierung und Turkisierung

Tatsächlich wurden in den von der Türkei und ihren Verbündeten eroberten Dörfern und Städten bereits im März 2018, während die Kämpfe in der Stadt Afrin selbst erst begonnen haben, schon die ersten arabischen und turkmenischen Siedler in die Häuser der geflohenen Zivilbevölkerung gebracht. Bei den ersten dort angesiedelten Familien handelt es sich teilweise um Angehörige von Kämpfern pro-türkischer Milizen, Araber aus verschiedenen syrischen Städten, aber auch sunnitische Turkmenen aus dem Irak, die mit dem IS kooperiert hatten. Schon vor dem Angriff auf Afrin waren sunnitische Turkmenen aus der Stadt Tal Afar in der von der türkischen Armee und protürkischen Milizen gehaltenen Region um Azaz aufgetaucht.

Nun sieht die türkische Regierung offenbar die Möglichkeit, diese nicht willkommenen Gäste los zu werden und damit zugleich den kurdischen Charakter des Kurd Dagh zu zerstören und Fakten zu schaffen, die auch in Zukunft nicht mehr so leicht rückgängig zu machen sind.

Es ist offensichtlich, dass die Türkei hier nicht nur auf eine systematisch Vertreibung der kurdischen Bevölkerung setzt, sondern auch zukünftige, ethnisierte Konflikte bewusst in die eigene Strategie mit einkalkuliert. Sie ist sich dabei offenbar ihrer selbst so sicher, dass diese ethnischen Säuberungen offen angekündigt wurden und tatsächlich gab es dagegen weder von den türkischen Nato-Partnern, noch von Russland oder der EU nennenswerte Proteste. Für Erdoğan muss dies wie ein Freibrief zur ethnischen Säuberung ausgesehen haben. (Thomas Schmidinger, 19.3.2018)