Michael Rutschky, Intellekt und Emotion.

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Berlin – "Fangen wir irgendwo an." Mit diesem Satz vorgeblicher Beliebigkeit begann 1980 ein Buch, das schnell als eine der hellsichtigsten Gegenwartsdiagnosen erkannt wurde: Erfahrungshunger von Michael Rutschky. Ein Essay über die Siebzigerjahre lautete der Untertitel, der Rezensent Reinhard Baumgart schlug zum besseren Verständnis vor, man hätte es auch "Fragmente zur Geschichte der westdeutschen Intelligenz seit 1968" nennen können.

Damit war auch "irgendwo" benannt, von dem Rutschky ausging: das Jahr 1968 mit seiner großen "Empörung" war auch für ihn, den 1943 geborenen Sohn eines hessischen Wirtschaftsprüfers, das Gegenteil von "irgendwo". Es war der Ausgangspunkt für die kleinteiligen Verzweigungen von Lebensprojekten jenseits der "Sehnsucht nach Schematismus", die nach dem Scheitern der revolutionären Hoffnungen von 1968 noch eine Weile für dogmatische Verfestigungen sorgte.

Rutschky hingegen, der sich später einmal als von einer "Frankfurter Szene von der aleatorischen Musik bis zur Presseabteilung der IG Metall" geprägt bezeichnete, hatte ein Sensorium für die Wende zum Subjektiven, die sich aus dem weltgeistigen Wahn von 1968 heraus entwickelte und die mit den vielen sozialen Bewegungen ein Netzwerk bekam, das die Bundesrepublik intellektuell und emotional neu verschaltete.

Intellektuelle Prägungen

Seine intellektuellen Prägungen erfuhr Michael Rutschky an der Westberliner Freien Universität, wohin er nach Studienstationen in Frankfurt und Göttingen kam. In Frankfurt hatte er noch Kontakt mit der Kritischen Theorie von Adorno und Habermas, aus der er aber auch idiosynkratische Schlüsse zog. 1978 gewann er den Eindruck, dass das Berliner Milieu, zu dessen "Kreation" er selbst wesentlich beigetragen hatte, an ein Ende gekommen war – ein Projekt über Literatur und Schule. Er verließ es in Richtung München. Seine Frau Katharina, eine Publizistin eigenen Ranges, sprach damals ironisch davon, ihr Mann wäre "auf Montage in Dirndlstetten".

Rutschkys vorübergehende Tätigkeit als Redakteur beim Merkur endete mit einem Wechsel zum Reportagemagazin Transatlantik. Der Erfolg von Erfahrungshunger ermöglichte aber eine Rückkehr nach Berlin als freier Autor. Mit dem Zeitschriftenprojekt Der Alltag. Sensationen des Gewöhnlichen fand er später eine gute Balance zwischen dem intellektuellen Führungsanspruch des Merkur und dem Luftikusgeneralismus von Transatlantik.

Alltagshistoriker

Mit einem seiner Buchtitel könnte man Rutschky als einen "Ethnografen des Inlands" bezeichnen oder aber auch als einen Alltagshistoriker der Gegenwart. 2010 hatte er seine Frau verloren, ein Rieseneinschnitt in seinem Leben. Nun ist Michael Rutschky im Alter von 74 Jahren nach längerer Krankheit in Berlin gestorben. (Bert Rebhandl, 19.3.2018)