Foto: Tsagkari
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Sandy wusste gleich, dass der Freier gefährlich war. Die meisten Männer, die auf der Suche nach Sex auf dem Taksim-Platz in Istanbul herumschlendern, sind entweder sichtbar nervös oder verbergen ihre Unsicherheit hinter gespielter Lässigkeit. Doch dieser Mann hatte etwas Bedrohliches an sich. "Nach seinem Aussehen zu urteilen war klar, dass er kein Geld hatte", erinnert sie sich. "Wir haben sie gewarnt, nicht mit ihm mitzugehen. Er sah suspekt aus. Aber sie hörte nicht auf uns. Sie brauchte das Geld."

Sandy stand auf dem Taksim-Platz – an derselben Stelle, an der sie beobachtet hatte, wie ihre Freundin Warda sechs Monate zuvor, am 17. Dezember 2016, mit dem türkischen Mann in der Samstagabendmenge verschwand. Es war das letzte Mal, dass sie sie lebend sah. Wie Sandy war auch Warda ein Transgender-Flüchtling aus Syrien. Beide waren vor Krieg und Verfolgung geflüchtet, auf der Suche nach einem sicheren Hafen in Europa. Sie schafften es bis nach Istanbul, wo sie – von Einheimischen und anderen Flüchtlingen gleichermaßen geächtet – gezwungen waren, sexuelle Dienste anzubieten, um überleben zu können.

Wie ein Hund begraben

"Drei Stunden später riefen wir sie an, aber das Telefon war ausgeschaltet", sagte Sandy mit Tränen in den Augen, die ihr die Wimperntusche verschmierten. "Deshalb ging ich nach Hause, wo ich sie blutüberströmt vorfand. Ich konnte sie kaum mehr erkennen." Ein Foto auf Sandys Mobiltelefon zeigt den Tatort. Warda liegt zusammengesackt auf dem Boden mit einer riesigen, tiefen Schnittwunde an der Seite und am unteren Rücken. Der Mörder hatte ihr den Bauch aufgeschlitzt, ihr die Kehle durchtrennt und ihre Genitalien entfernt.

"Irgendwann kam die Polizei und nahm ihre Leiche mit", erzählte Sandy. "Wir wollten, dass sie ein ordentliches Begräbnis bekommt, aber man ließ uns nicht. Sie wurde wie ein Hund begraben." Warda war 30, ebenso alt wie Sandy. Ihre letzte Ruhestätte befindet sich auf einem Friedhof am östlichen Stadtrand von Istanbul. Wildblumen wachsen an ihrem anonymen Grab. Als Sandy nach Wardas Tod deren Verwandte in Syrien kontaktierte, meinten diese, dass sie Schande über die Familie gebracht habe. Sie gestatteten es dem Friedhof nicht, einen Grabstein aufzustellen.

LGBT-Pride-Parade in Istanbul

Die Polizei hat den Täter nie gefasst, und der Mordfall blieb in der Türkei – einem Land, in dem Menschenrechtsaktivisten zufolge Verbrechen aus Hass gegen lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle (LGBT) Menschen immer häufiger werden – weitgehend unbeachtet. Für manche LGBT-Flüchtlinge in Istanbul gab dies den Ausschlag, zu versuchen, irgendwie nach Westeuropa zu gelangen.

Lediglich in Belgien werden Daten über Asylanträge von LGBT-Personen gesammelt, aber auch dort stehen aktuelle Zahlen nur aus den Jahren 2008 bis 2012 zur Verfügung. Während dieser Zeit ging es in 4,4 Prozent der Fälle um sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität.

In der Türkei, die nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) die größte Flüchtlingsbevölkerung der Welt beherbergt, klopfen inzwischen circa 3,4 Millionen Menschen an die Tore Europas. Ramtin, ein 27-jähriger schwuler Mann aus dem Iran, ist einer von ihnen. Am 25. Juni 2017 stand er gegen Mittag auf einer Seite des Taksim-Platzes, als sich Aktivisten auf der gegenüberliegenden Seite versammelten, um sich dem Verbot der jährlichen LGBT-Pride-Parade zu widersetzen.

Zunehmend reaktionäres Klima

Etwas mehr als ein Jahr nachdem ein gescheiterter Militärputsch die Regierung dazu veranlasst hatte, den Notstand auszurufen — von dem Kritiker behaupten, er diente nur dazu, autoritäre Machtstrukturen zu festigen und jeglichen Widerspruch im Keim zu ersticken —, griff die Polizei mit voller Härte durch.

Ramtin beobachtete entsetzt, wie über 30 Polizeibusse, Wasserwerfer und Panzer alle Verbindungen zur İstiklâl Caddesi, eine Fußgängerzone, die zum Taksim-Platz führt, wo es normalerweise von Einheimischen und Touristen nur so wimmelt, blockierten. Seit seiner Ankunft in der Türkei sei Ramtin, wie er sagt, von Einheimischen und anderen iranischen Flüchtlingen überfallen, vergewaltigt und mit dem Tode bedroht worden. Wenn er Anzeige erstattete, wurde er von der Polizei verspottet.

"Sie lachten mich aus und sagten mir, ich hätte nur bekommen, was ich verdiente, weil ich eine Schwuchtel bin", erzählte er. Auf dem Papier hat die Türkei eine lange Tradition der Toleranz im Umgang mit Homosexualität, die seit der Gründung der Republik 1923 legal ist. Doch aufgrund der wachsenden Homophobie in einem zunehmend reaktionären und antilaizistischen Klima sei das Land kein Zufluchtsort für LGBT-Asylbewerber, sagen Menschenrechtsgruppen.

Viel Hasskriminalität

Im November sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass es "den Werten unserer Nation" widerspreche, LGBT-Personen zu stärken. Eine Woche später verbot das Büro des Gouverneurs von Ankara alle LGBT-Kulturveranstaltungen in der Stadt. Yıldız Tar, ein Sprecher der Kaos Gay and Lesbian Cultural Research and Solidarity Association, einer Menschenrechtsgruppe in Ankara, meinte, dass solche Maßnahmen dazu beitragen würden, die schwelende Homophobie und Transphobie zu entfachen.

"Es gibt sehr viel Hasskriminalität", erklärte er auf den Stiegen einer entlegenen Gasse im Zentrum Istanbuls. Tar verwies auf den Fall von Muhammed Wisam Sankari, einem schwulen syrischen Flüchtling, der 2016 in Istanbul geköpft und so brutal verstümmelt wurde, dass seine Freunde ihn nur anhand seiner Hose identifizieren konnten. Sankari hatte der Polizei erzählt, dass er in Gefahr schwebe, nachdem er fünf Monate zuvor entführt und in einen Wald gebracht worden war, wo er von unbekannten Angreifern vergewaltigt und gefoltert wurde. Niemand sei für die Angriffe zur Rechenschaft gezogen worden, sagte Tar.

Widernatürlicher Geschlechtsverkehr

Tar sagte, dass im Exil lebende LGBT-Personen aus manchen Ländern, insbesondere dem Iran, auf gut etablierte Unterstützungsnetzwerke zählen können, die ihnen helfen, über die Runden zu kommen, und sie durch das langwierige Asylverfahren begleiten. Indes sind LGBT-Flüchtlinge aus Syrien oft völlig auf sich gestellt, meinte Tar.

Nach syrischem Recht ist "widernatürlicher Geschlechtsverkehr" eine Straftat, die mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet wird, und zahllose LGBT-Personen seien in den von den Milizen des "Islamischen Staates" kontrollierten Gebieten gefoltert und umgebracht worden, sagen Menschenrechtsgruppen. Seit 2011 gilt Syrien gemäß der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association, einem Zusammenschluss von Menschenrechtsgruppen, für LGBT-Personen als gefährlichster Ort der Welt.

Fotos in Frauenkleidern

Für Maher, eine 23-jährige irakische Transgender-Frau, war mit dem Mord an Warda das Maß endgültig voll. In ihrer irakischen Heimat hatte Maher ein Doppelleben geführt. Auf dem Polizeirevier, wo sie in der Verwaltung tätig war, gehörte sie für ihre Kollegen zu den Jungs. Aber das änderte sich schlagartig, als sie eines Tages ihr Telefon im Büro liegenließ. Darauf waren Fotos von ihr mit einer langen schwarzen Perücke und in Frauenkleidern.

Kollegen, die die Fotos sahen, ließen sie verhaften. Sie sei "widernatürlicher Handlungen" bezichtigt, gefoltert und eingesperrt worden, erzählte sie. Nach dreieinhalb Monaten wurde sie unter der Bedingung aus der Haft entlassen, dass ihr Bruder, während sie auf die Verhandlung wartete, für sie bürge.

Als sie einige Monate später außer Landes floh, wurde ihr Bruder verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt — ein Umstand, der jeden Tag auf ihr lasten würde. Einen Monat, bevor Warda in Istanbul umgebracht wurde, war Maher Zeugin des Mordes an einer anderen Transgender-Prostituierten am Taksim-Platz.

43 Transgender-Personen ermordet

Maher stand mit ihrem Freund Hassan, einem schwulen Flüchtling aus Syrien, auf dem Platz, als eine Gruppe Männer die Prostituierte zu schikanieren begann. "Hassan wollte hingehen und sie schützen", sagte sie. "Sie war keine Freundin von uns, aber wir kannten sie vom Sehen. Ich hatte wirklich Angst, dass diese Leute uns angreifen würden, deshalb drängte ich Hassan weg. Ein wenig später schnitten ihr die Männer mit einem Messer die Kehle durch."

Zwischen 2008 und 2016 wurden in der Türkei 43 Transgender-Personen ermordet, geht aus einem Bericht aus dem Jahr 2016 der Menschenrechtsgruppe Transgender Europe hervor. Erschüttert von der sie umgebenden Gewalt entschlossen sich Maher und drei enge Flüchtlingsfreunde, darunter auch Hassan, zu versuchen, in die Niederlande zu kommen, die sie für eine Art gelobtes Land hielten.

Aufbruch nach Griechenland

Hassan, der im syrischen Aleppo als Friseur arbeitete und gebleichtes blondes Haar trägt, träumt davon, in Amsterdam seinen eigenen Salon zu eröffnen. Unbeirrt machten sich Maher und Hassan im Jänner 2017 gemeinsam mit Hassans irakischem Freund Mahdi und Lara, einer Transgender-Frau aus Syrien, nach Griechenland auf.

Sie zahlten einem Schlepper jeweils 800 Euro, damit er sie in einem Schlauchboot vom Osthafen von Bodrum zur 80 Kilometer vom türkischen Festland entfernten griechischen Insel Leros brachte. In Leros angekommen, ließen sich Maher, Hassan, Mahdi und Lara in einem Lager in der Bucht von Lakki registrieren, das auf dem Gelände eines psychiatrischen Krankenhauses aus dutzenden umfunktionierten Schiffscontainern bestand.

Gewaltandrohungen an der Tagesordnung

Sie berichteten, dass Gewaltandrohungen an der Tagesordnung standen, sowohl von den Bewohnern des Lagers als auch den Einheimischen der 8.000 Einwohner zählenden Insel. Im Mai wurde Lara von einer Gruppe von Männern niedergestochen, als sie die Hauptstraße der Insel entlangging.

"LGBT-Flüchtlinge brauchen zusätzlichen Schutz, da sie verschiedenen Formen der Gewalt ausgesetzt und von einer Grundversorgung ausgegrenzt sind", sagte Margarita Kontomichali, Koordinatorin eines Unterstützungsprogramms für LGBT-Asylbewerber, das von der Hilfsorganisation Solidarity Now in Athen geleitet wird. (Alexia Tsagkari, Istanbul, Leros, Kos, Athen, 21.3.2018)