Bild nicht mehr verfügbar.

1968 war vor allem ein "Ereignis der Bildgeschichte": deutsche Studenten im Frühjahr 1968 in Bonn.

Foto: Foto: Picturedesk.com

In der Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts (1914-1989) gab es ein langes Jahrzehnt (1957-1973), das in einer Jahreszahl seine Chiffre fand: 1968 wird heuer auch schon fünfzig Jahre alt. Die Jugend, die damals auf die Barrikaden stieg, ist heute im Rentenalter. Die Generation, die damals herausgefordert wurde, ist heute Geschichte. Und 1968? Sind die vielen Bücher, die in diesem Jahr zum Thema erscheinen, schon Geschichtsbücher oder noch Diagnosen einer erweiterten Gegenwart? Haben die Energien, die dieses Jahr verströmt hat, ihre Mission erfüllt, sodass nun Zeit für etwas Neues ist – zum Beispiel für eine "konservative Revolution", wie das ein CSU-Politiker kürzlich formulierte, der offensichtlich keine Ahnung hatte, wovon er sprach?

Zum Anlass des Geburtstags von 1968 vor zehn und vor zwanzig Jahren sind jeweils bereits viele Titel erschienen. Doch erst zum runden, zum silbernen Jubiläum einer Revolte, die zu einem "Marsch durch die Institutionen" wurde, stellen sich nun zum ersten Mal so richtig die Fragen der Historisierung, also der Einordnung.

In Verläufe eingebettet

Das wird besonders deutlich, wenn man zwei aktuelle Titel zum Thema nebeneinander liest: Adorno für Ruinenkinder von Heinz Bude und Das andere Achtundsechzig von Christina von Hodenberg. Mit dem Begriff der "Ruinenkinder" macht der Soziologe Bude gleich deutlich, dass die 68er nicht nur eine bedeutende Nachgeschichte, sondern auch eine gewichtige Vorgeschichte haben – für die Generation derer, die zwischen 1938 und 1948 geboren worden waren, gehörten zu der "Erlebnisschichtung" wesentlich der Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Schwierigkeiten der Entnazifizierung. Bude entlehnt diesen Begriff von Karl Mannheim, einem Klassiker der Soziologie, der entscheidende Anstöße für die Generationenforschung gegeben hat. Zugespitzt könnte man sagen: In einer "Erlebnisschichtung" verliert 1968 ein wenig von dem Charakter als herausragendes Ereignis, da das Jahr in Verläufe eingebettet wird. Aus der Vielzahl der Verläufe wird dann so etwas wie Geschichte.

Die in London arbeitende Historikerin Christina von Hodenberg setzt sich zu Beginn ihrer Darstellung ausdrücklich von Mannheims Generationenkonzept ab, allerdings ist Das andere Achtundsechzig dann von Budes Ansatz gar nicht so weit entfernt. Hodenberg möchte vor allem mit einem Klischee aufräumen: dass 1968 ein Generationenkonflikt war. Das ist allerdings auch bei Bude schon in gewisser Weise so. Er ist ein erzählender Soziologe, bei ihm wird man keine Statistiken finden, sondern Geschichten. Er erzählt von Klaus Bregenz, der sich vornahm, Adornos blinden Fleck (die ökonomische Theorie) aufzuhellen, oder von Adelheid Guttmann, der auf Basis einer Flüchtlingsgeschichte als Halbwaise eine beispielhafte Frauenbiografie gelang.

Urgrund der Kriegskinder

Bude stößt bei seinen Begegnungen auf einen "Urgrund der Kriegskinder". Häufig gibt es in diesem Grund keinen Vater, das führt zu einer "vereitelten Dreiecksbildung". "Den Kindern fehlt dann das rettende Nein des väterlichen Gesetzes, das die Unverbrüchlichkeit der affektiven Solidarität der Eltern gegen das heroische Werben der sich maßlos überschätzenden Kinder zum Ausdruck bringt." Das ist ein aufschlussreicher Satz, denn er enthält wohl auch so etwas wie eine Rückprojektion oder eine Gefühlsschichtung: Die 68er mussten nicht zuletzt mit der Überschätzung ihres welthistorischen Mandats leben lernen. Nicht selten wurden daraus Geschichten der Resignation oder der Bescheidung. Klaus Bregenz schrieb ein großes Buch, danach wandte er sich von der Wissenschaft ab. Und zwar möglicherweise aufgrund eines Selbstmissverständnisses: "Ich habe die bürgerliche Gesellschaft gemeint, aber über meine Familie gesprochen."

Den 68ern ging es doch darum, diese Verschränkung zu legitimieren: Das Private ist das Politische, weil es kein Dasein außerhalb der Gesellschaft gibt (erst der Neoliberalismus wagte das später wieder zu behaupten, aber das war dann schon wieder ein Angriff auf das Dasein). Der melancholische Grundton bei Bude kommt eher von den Männern, die Frauen, die an der Ereignisgeschichte von 1968 relativ geringen Anteil bekamen, bekamen von den sozialen Folgen eine Menge ab: Sie gingen in viele Freiräume und (er)fanden Zusammenhänge, die nicht weltrevolutionär, aber lebenspraktisch waren.

Weg von geläufigen Figuren und Orten

Wenn Christina von Hodenberg über Das andere Achtundsechzig schreibt, dann will sie weg von den geläufigen Figuren und Orten – ein Bemühen, das aber auch Bude teilt, ohne den revisionistischen Gestus der Historikerin. Man merkt Hodenbergs Buch auch methodisch ein Bemühen an, dieses Thema aus dem Feuilleton abzuholen und der Wissenschaft zuzuführen. Unbestritten erschließt sie mit ihrer Quellenarbeit neue Facetten. Sie bemerkt zu Recht, dass 1968 vor allem ein Ereignis der Bildgeschichte geworden ist, und privilegiert im Vergleich andere Dokumente.

Vor allem hat sie sich durch viele Tonbänder gehört, die aus Forschungsprojekten der letzten 50 Jahre übriggeblieben sind. In Bonn fand 1968 eine Studie mit Ruheständlern statt, die sie ausführlich auswertet. Damit findet sie erstens einen weiteren Schauplatz, sie kann aufzeigen, dass auch in der Provinz gegen die herrschenden Verhältnisse gekämpft wurde. Und zweitens fügt sie dem Phänomen einer Jugendbewegung ein generationelles Gegenüber hinzu: Zum ersten Mal kann man in Das andere Achtundsechzig ausführlich erfahren, wie die Bevölkerungsgruppe das alles begriffen hat, die damals aus dem aktiven oder Erwerbsleben schon ausgeschieden war.

Vielfältige Landschaft hinter Denkmälern

Hodenberg kommt also auch um die Generationenfrage nicht herum. Sie will nur die fixe Idee loswerden, dass alles erweiterte Familienkonflikte gewesen wären – wie es im Fall von Hannes Heer, ihrem prominentesten Bonner Protagonisten dann aber doch wieder der Fall war. Heer wurde später im Zusammenhang der sogenannten Wehrmachtsausstellung bekannt. Was bei Bude zwischen den Zeilen auftaucht, bekommt bei Hodenberg die ausdrückliche Ordnung von Überschriften: "Varianten sexueller Befreiung" oder "Achtundsechzig war weiblich". Im Februar 1968 gaben Hans Günter Jürgensmeier und Helga Nägler (auf Drängen der Eltern) ihre Verlobung bekannt, sie wollten das aber dann doch zumindest im Geist ihrer "Jugendkultur" tun, und so vermeldeten sie die Eheabsicht als Gründung einer "Individualkommune".

Dieses Detail macht deutlich, dass 1968 nicht nur ein großes Aufbegehren mit sich brachte, sondern auch viele Kompromisse – letztlich sorgten die Ereignisse des Jahres 1968 für einen großen Kreativitätsschub bei der Kompromissbildung. In der aktuellen Literatur zum Thema werden die typischen Ereignisgeschichten nicht zu kurz kommen. Wilfried Loths Fast eine Revolution konzentriert sich auf Frankreich, Berlin – Stadt der Revolte von Michael Sontheimer und Peter Wensierski geht von 1968 bis zur Hausbesetzerbewegung und zu den ersten abgewickelten Zwischenraumnutzungen nach der Wende.

Aber mit den beiden Büchern von Heinz Bude und Christina von Hodenberg findet man zwei Wegmarken für die historiografische Debatte: In beiden Fällen geht es letztlich darum, einen "Generationenmythos" über sich selbst aufzuklären. Die Logiken des medialen Betriebs führen nun einmal dazu, dass Geschichten sich eher verfestigen als differenzieren, und wer von 1968 etwas zu erzählen hat, baut damit am eigenen Denkmal. Die nuancierten Porträts von Bude und die im Vergleich natürlich manchmal ein wenig spröde Quellenarbeit von Hodenberg machen die vielfältige Landschaft hinter den Denkmälern erkennbar. (Bert Rebhandl, 24.3.2018)