Fernab denkerischer Trampelpfade: Philosophin Charim.

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Isolde Charim, "Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert". € 22,- / 224 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2018

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Nichts ist mehr so, wie es früher war, nichts wird mehr so werden, wie es gewesen ist: Diese durch viele ökonomische, technologische und gesellschaftliche Evidenzen erhärtete Grundannahme steht gleichsam am Ausgangspunkt von Isolde Charims Buch "Ich und die Anderen". Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert.

Eines vorweg: Mit dieser aus einer Ö1-Sendereihe entstandenen politisch-sozialpsychologischen Gegenwartsdiagnose ist der Wiener Philosophin und Publizistin eine herausragende Arbeit gelungen. Zentrale Gegenstände ihrer Erörterungen sind Erosion und Neuentstehung gesellschaftlicher Identitätskonfigurationen, welche aus der Zersetzung des guten alten (auch bösen alten) Nationalstaats resultieren, sowie die Verwerfungen, die dieser Prozess zur Folge hat: verschärfte Kämpfe über Religionen, Leit- und sonstige Kulturen, Verfall politischer Sitten, populistische Triumphe, ein atemberaubender Strukturwandel der "Öffentlichkeit".

Fernab denkerischer Trampelpfade

All diese Themen sind so häufig behandelt worden, dass es als Kunststück gelten muss, darüber ein Buch zu schreiben, welches sich fernab aller denkerischen Trampelpfade und zugleich haarscharf entlang der relevanten zeithistorischen Sachverhalte bewegt. Charim geht von drei aufeinanderfolgenden, in die jeweilige Zeit eingebetteten Individualisierungstypen aus, die wir in den vergangenen Jahrzehnten als Zeugen – und Akteure – miterlebt haben; dies ist der rote Faden, der sich durch das Buch zieht.

Der erste Typus von Individualisierung fand im schützenden Gehäuse des intakten Nationalstaats statt. Zur abstrakten Teilhabe am demokratischen Prozess bekam das bürgerliche Individuum quasi eine wärmende nationale Uniform hinzugeliefert, welche ihm erlaubte, sich als Teil eines größeren Ganzen zu fühlen ("Ich bin Österreicher, Deutscher, Franzose" und so fort). Charim betont zu Recht, dass diese nationalen "Erzählungen" zu einem Gutteil immer auch Schimäre waren, und dass der Nationalstaat historisch keineswegs ein naturwüchsiges Phänomen ist, sondern häufig erst mithilfe erlesener Brutalität hergestellt worden ist.

Nicht zuletzt dank 1968 tritt dann ein neuer, freiheitsbewegter Individualisierungstypus auf den Plan. Es schlägt die Stunde der studentischen Protestbewegungen, der Bürgerinitiativen und der NGOs, die gegen das nationale Gehäuse und seine Institutionen pochen, aber immer noch eines gemeinsam haben: ein identitätsstiftendes Widerlager, an dem man sich kritisch abarbeitet.

Wurst und Lederhose

Dem historisch jüngsten, gegenwärtigen Bewusstsein, welches Charim "pluralisiert" nennt, ist auch dieser Anhaltspunkt verlorengegangen. Unter dem Ansturm von Entgrenzung, Globalisierung, Migration und Internetrevolution fallen dem oder der Einzelnen vermeintliche Gewissheiten wie nationale, religiöse und geschlechtliche Identitäten nicht mehr automatisch zu, sondern es muss, oft hart, um sie gerungen werden.

In jedem Ich ist, um die berühmte Zeile von Rimbaud zu paraphrasieren, immer auch der Andere präsent, und in dieser Zeit ist er es mehr denn je. Selbst auf dem Land wird man den reinen Ursprung nicht mehr finden, da mögen Andreas Gabalier und seine Lederhose, der Charim eine ebenso luzide semiotische Analyse angedeihen lässt wie dem Bart von Conchita Wurst, noch so sehr das Gegenteil suggerieren.

Charim verfolgt das pluralisierte Bewusstsein bei seinen Bewährungsproben auf vier Feldern: dem der Religion, der kulturellen Traditionen, der Politik und der Öffentlichkeit, jenem "Bereich, in dem die Gesellschaft sich über sich selbst verständigt". Was ihre Exkursionen so aufregend macht, ist die unbestechliche begriffliche Präzision, mit der sie ein zigfach durchpflügtes Terrain in neuem, kristallklarem Licht erscheinen lässt. Sie versagt sich einfache Rezepte, wie den Problemen der Pluralisierung zu begegnen wäre – der jederzeit instrumentalisierbaren Wut etwa, die aus der Frustration über die Unmöglichkeit, "volle Identitäten" zu leben, resultiert.

Keine einfachen Antworten

Explizite Empfehlungen wie im Kapitel "Religion", wo sie wünschenswerte Anwendungsterrains für einen "harten" und einen "weichen" Laizismus absteckt, sind selten. Die von linken Kritikern der PC eingemahnte Rückkehr zum "Eigentlichen", zum "Klassenkampf", greift ihr zu kurz, weil dieser die Bedeutung der Identitätsfrage vernachlässige. Ebenso ablehnend steht sie dem Versuch eines linken Populismus gegenüber, weil dieser mangels jeder Transzendenzidee und ohne Alternative zum hohlen, aber erfolgreichen Heimatkonzept der Rechten auf verlorenem Posten stehe. Die "Minuserfahrung" der präkarisierten Identitäten lässt keine einfachen Antworten zu. Umso wichtiger erscheint es, die mit diesem Buch ausgesprochene Einladung zum Selberdenken über jene brüchige Welt anzunehmen, in der wir leben. (Christoph Winder, 25.3.2018)