Das ursprüngliche Gebäude von Lagerhaus in Pöchlarn steht nicht mehr. Die Genossenschaft ist von der Donau an den Bahnhof gezogen, wo heute auch der Getreidespeicher steht.

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Dieses Bild mit dem Titel "Vater Raiffeisen" ziert auch heute den Gründungssaal in Mühldorf. Der Geburtstag des Vordenkers jährt sich am 30. März jährt zum 200. Mal.

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Bürgermeister Ernst Vergani gründete im Dezember 1886 die erste Raiffeisenbank im heutigen Staatsgebiet Österreichs.

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Das Portrait von Prälat Matthäus Bauchinger hängt heute in der Lagerhaus-Zentrale in Pöchlarn.

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Wer nach Pöchlarn, eine 5.000-Personen-Gemeinde an der Donau, reist, sieht den Getreidespeicher schon von weitem, der wie ein Denkmal in der hügellosen Landschaft steht. Auf der grauen Wand prangt groß das Giebelkreuz der Raiffeisen. Nur beim genauen Hinsehen erkennt man den verblichenen Schriftzug in Fraktur: "Landwirtschaftliche Genossenschaft Pöchlarn". Das schwarz-gelbe Logo wirkt in Niederösterreich allgegenwärtig; und doch hat die bröckelnde Fassade des Speichers einiges mit der Entwicklung von Raiffeisen gemein – und den Problemen, über die keiner spricht.

Im Schatten des Turms schleppt ein Mann gerade einen Sack Blumenerde aus dem angrenzenden "Lagerhaus" und winkt, eine ältere Dame plaudert an der Kassa mit einer Mitarbeiterin, nachdem sie Klebeband und Mehl gekauft hat. "Hast du schon gehört ...", beginnt sie einen Satz. Hier scheint jeder jeden zu kennen.

Das landwirtschaftliche Leben wirkt intakt, auf dem Vorplatz werden Maschinen getestet. Und doch schrumpft die Genossenschaft inmitten des Mostviertels: Nach der Gründung stieg die Zahl der Mitglieder 1924 auf einen Rekordwert von 5.000 Personen, mittlerweile besitzen nur noch 3.900 Bauern Geschäftsanteile.

Bauernsterben

Ein Grund dafür dürfte der Rückgang an Landwirten sein: "Mindestens die Hälfte in meinem Ort hat aufgehört", erzählt eine Milchbäuerin. Ähnliches berichtet auch ein Rinderbauer aus der Region: "Heute gibt es im Dorf fast keinen Vollerwerbslandwirt mehr." Dadurch würden auch viele gemeinsame Aktivitäten und der Austausch unter Bauern wegfallen: "Früher sind wir noch oft zusammengesessen."

Hört man sich in der Gegend um, kennt – zumindest hinter vorgehaltener Hand – fast jeder den einen oder anderen Landwirt, der mittlerweile aus den Genossenschaften ausgetreten ist, Namen fallen dabei jedoch nie. "Es outet sich keiner offiziell, hintenherum bekommt man es schon mit", sagt eine Bäuerin. Laut ihr würden die Genossenschaften aufgrund anderer bestehender Einkaufsgemeinschaften an Bedeutung verlieren.

In Lagerhaus-Geschäften wird heute so ziemlich alles verkauft, von Greißlerprodukten bis Autos.
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Ernst Rechenmacher, Geschäftsführer des Raiffeisenlagerhauses Mostviertel Mitte, erklärt sich die sinkenden Mitgliederzahlen durch das Bauernsterben: "Die Kleinen hören auf und kündigen ihre Geschäftsanteile, und die Großen werden immer größer." Den Zusammenhalt in der Genossenschaft gibt es dennoch, meint der Geschäftsführer.

Greißlerprodukte und Autos

"Ursprünglich haben sich die Lagerhaus-Genossenschaften nur mit der Landwirtschaft beschäftigt", sagt Rechenmacher. Heute verkauft der Konzern neben Baugeräten auch Greißlerprodukte und Autos, vermietet landwirtschaftliche Maschinen und beschäftigt Handwerker. Doch auch der Silo ist nach wie vor in Betrieb, die Genossenschaft vermarktet Holz, Getreide und Mostobst von Landwirten aus der Region.

Hier, nicht weit entfernt vom Geburtshaus des Künstlers Oskar Kokoschka, wurden auch die Grundsteine des heutigen Raiffeisen-Imperiums in der Landwirtschaft gelegt. Es war der Stadtpfarrer, Prälat Matthäus Bauchinger, der die Klagen der Bauern hörte, die oft hochverschuldet waren, und 1898 die erste Lagerhaus-Genossenschaft gründete. "Er wollte die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen", erzählt Pöchlarns Bürgermeister Franz Heisler. Durch die Vereinigung sollten die Landwirte gemeinsam bessere Preise aushandeln, noch im selben Jahr gehörten ihr rund 300 Bauern an.

Knebelverträge und Abhängigkeit

Das System, das Landwirte ursprünglich stärken sollte, endet heute oft in Knebelverträgen, sagt Ewald Grünzweil, Obmann der IG Milch. Laut diesem haben Landwirte meistens keine andere Möglichkeit, als bei den Genossenschaften dabeizubleiben, weil sie von den Abnehmern abhängig sind. Aber gerade kleine Milchbauern würden dort schlechtere Preise erhalten, Alternativen gebe es wenige: "Die Genossenschaften gehören alle Raiffeisen", sagt Grünzweil, "der Wettbewerb ist ausgeschaltet." Tatsächlich gehören 80 Prozent aller Genossenschaften in Österreich dem Raiffeisen-Verband an. Bei rund 90 der 1.500 Raiffeisen-Zusammenschlüsse handelt es sich um Lagerhäuser, 90 sind Molkereien und weitere 400 Banken. Die 900 übrigen reichen von Bioenergie- bis Weidevereinigungen.

Laut dem IG-Milch-Obmann würden viele Landwirte aber nicht nur mangels Alternativen bei den Genossenschaften bleiben: "Sie trauen sich nicht zu reden", sagt Grünzweil. Immerhin sei Raiffeisen ein großer Arbeitgeber im ländlichen Raum, und viele Bauern würden Höfe über Kredite bei der Bank finanzieren.

Auch von der genossenschaftlichen Grundidee selbst sei nicht viel übrig geblieben: "Raiffeisen würde im Grab rotieren, wenn er wüsste, was aus dem System geworden ist", sagt Grünzweil.

Die zwei Gründerväter der Genossenschaften

Damit meint er Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der neben Hermann Schulze-Delitzsch als einer der Gründerväter des Genossenschaftssystems im deutschsprachigen Raum gilt. Auf seinen Überlegungen wurden die heutigen Lagerhäuser wie auch die Raiffeisenkassen aufgebaut.

Raiffeisen, der als 27-Jähriger Bürgermeister einer Gemeinde im Westerwald wurde, sah sich mit der Situation der ärmlichen Bevölkerung konfrontiert. Der strenggläubige Protestant wollte – zuerst auf der Basis des Prinzips christlicher Nächstenliebe – Bedürftigen helfen. Er gründete mit der finanziellen Unterstützung wohlhabenderer Bürger einen Brotverein, bei dem sich Menschen mit Schuldscheinen Lebensmittel besorgen konnten. Zuvor waren Landwirte oft von Wucherern abhängig gewesen, die Zinsen von bis zu 20 Prozent verlangten.

Verbreitung sorgte für Kritik

Als Raiffeisens Idee in Österreich verbreitet wurde, gab es bereits mehr als tausend Genossenschaften, die nach dem Organisationsprinzip von Schulze-Delitzsch geführt wurden, auf dem die Volksbanken aufgebaut sind. Die Verbreitung des neuen Regimes sorgte bei den existierenden Vereinigungen für Kritik – nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Lobby für Raiffeisen, sagt Wolfgang Pirklhuber, Agrarökologe und ehemaliger Landwirtschaftssprecher der Grünen. Auch die Farben im heutigen Logo der Bank kämen nicht von ungefähr – Schwarz-Gelb war die Färbung der Habsburger. So wurde bereits 1873 in einem Beschluss des Ackerbaukongresses die "thunlichste Agitation" von landwirtschaftlichen Kreditvereinen empfohlen, insbesondere jene nach dem Grundgedanken von Raiffeisen seien "höchst nachahmenswerth".

Ein Bild, das in Niederösterreich seltener wurde. Mit den Landwirten brechen den Genossenschaften auch die Mitglieder weg.
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Die erste Raiffeisenkasse im heutigen Staatsgebiet Österreichs wurde schließlich erst dreizehn Jahre nach dem Beschluss in Mühldorf gegründet, nur 30 Kilometer nördlich von Pöchlarn. Hier, im engen Spitzer Graben, rief der damalige Bürgermeister und Abgeordnete im niederösterreichischen Landtag, Ernst Vergani, im Dezember 1886 die erste Darlehenskasse unter Raiffeisens Namen ins Leben. 94 Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende quetschten sich in den Speisesaal des Stammwirtshauses und erstanden mit jeweils fünf Gulden Geschäftsanteile. "Damals gab es noch die unbeschränkte Haftung – einer für alle, alle für einen", erzählt Pirklhuber.

Raiffeisen ist "stark verankert"

Wer die Gemeinde in der Wachau heute besucht, kann Raiffeisen kaum ausweichen: Eine überdimensionale Büste des Protestanten ziert den Ortskern. "Gerade im ländlichen Bereich ist Raiffeisen schon noch stark verankert", sagt Johann Dallinger, ehemaliger Vizebürgermeister Mühldorfs. Der Landwirt ist überzeugt davon, dass die Genossenschaftsidee noch lebt. Er versteht aber auch, dass Bauern ihre Produkte anderswo unterbringen: Lagerhaus würde nicht mehr die besten Preise zahlen, viele Mühlen seien bei der Getreideübernahme zeitlich flexibler. Vor allem aber bei jungen Landwirten sei die Identifikation mit Raiffeisen nicht mehr vorhanden.

Sinnbildlich für die aussterbende Generation Raiffeisen ist auch der einstige Gründungssaal. Dort, wo der charismatische Vergani vor mehr als 130 Jahren versuchte, seine Mitbürger von der Idee zu begeistern, erinnert nur noch ein Porträt mit dem Titel Vater Raiffeisen an die Geschehnisse an jenem Dezembertag. Der Speiseraum musste einem Veranstaltungsort in einem Wohnhaus für Pensionisten Platz machen. Statt Genossenschaftsstatuten sind hier Palmkätzchen und Grünzeug zu finden: Heute werden Osterkränze gebunden. (Nora Laufer, 24.3.2018)