Von Zombies und sich entladender Gewalt handelt "Mitwisser".

Foto: Schauspielhaus Wien

Wien – Für Google Maps ist jeder beliebige Punkt auf Gottes Erdboden nichts als ein Zahlenwert aus Längen- und Breitengraden. Eine Siedlung wie Port St. Lucie im trockengelegten Sumpf Floridas, Schauplatz eines furchtbaren Verbrechens, besteht aus nichts anderem als Eisengittern.

Im Wiener Schauspielhaus spielen leger gekleidete Amis mit Latexmasken Boule. Sie werfen silberglänzende Stahlkugeln, die dröhnend laut auf das Gitter schlagen. Die Kugeln gleichen Gestirnen. Das Schicksal sucht Floridas Rentnerparadies grausam heim. Ein Jüngling meuchelt ohne ersichtlichen Grund seine Eltern. Über den noch nicht erkalteten Leibern seiner Erzeuger "schmeißt" Tyler "eine Party". Auf die fassungslose Frage "Warum?" lautet seine eher gut gelaunte Antwort: "Warum nicht?"

Ein merkwürdig zähflüssiges Biotop

Enis Macis Stück Mitwisser stellt keine Frage, die Fjodor Dostojewski in seinem Roman Schuld und Sühne nicht längst schon ausführlich beantwortet hätte. Eine junge Türkin, an der sich ein Nachbar gewohnheitsmäßig vergeht, tötet ihren Peiniger und wirft seinen von ihr abgetrennten Kopf der Dorfgemeinschaft vor die Füße. Ein Arbeitsloser aus Dinslaken (Ruhrpott) stellt sich vorbehaltlos in den Dienst des IS und zieht nach Vorderasien, um zu morden.

Allen diesen Fällen soll das nämliche Dilemma zugrunde liegen: Freunde und Bekannte bilden ein merkwürdig zähflüssiges Biotop, in dem sämtliche Ursachen für die sich überraschend entladende Gewalt spurlos verschwinden oder, schlimmer noch: sich bequem entsorgen lassen.

Auf dem Kongress

Macis Drama korrespondiert mit der ältesten Analyseform der Welt: dem Chorgedicht. In ihm und mit ihm werden sozio-chinesische Erklärungen vorgetragen. Man glaubt sich gelegentlich als Zaungast auf einem Bielefelder Soziologenkongress: "Ein digitales Ökosystem ist ein / dezentrales / adaptives / offenes / sozio-technisches System ..." Was früher die Pythia im delphischen Orakel sprach, gibt heute die Suchmaschine umso bereitwilliger preis.

Enis Macis uraufgeführter Dramentext, mit allerlei Preisen wie dem Hans-Gratzer-Stipendium behängt, kann sich nicht recht entscheiden. Will er die uralte Frage menschlicher Gewaltbereitschaft diskutieren, oder möchte er lieber den verführerischen Erlebnishorizont des World Wide Web zur Darstellung bringen?

Seltsam akribische Ortsbeschreibungen wechseln sich ab mit sauer schmeckender Dritte-Welt-Poesie. Der fünfköpfige Chor (Regie: Pedro Martins Beja) ist jedenfalls mit viel Verve bei der unklaren Sache.

Königin der Nacht

Man sieht die Türkin Nevin (Lili Epply) gleichsam wie eine Königin der Nacht im schwarzen Glitzergewand Verwünschungen auf ihr mörderisches Umfeld hinunterdonnern. Die "Bürger von Weimar" bilden ein Verlautbarungsorgan, da Fremdenhass und Rechtsradikalismus längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind. Man kommt aus dem zustimmenden Nicken gar nicht heraus.

Der Schluss dieses Stückes gehört dann Zombies aus den Chat-Rooms, Emojis auf Beinen mit – Ödipus sei Dank! – auch ausgestochenen Augen. Todschick, das Ganze, mit Bildungsresten verquirlt (Heiner Müller!) und viel echter Anteilnahme inszeniert. Aber eben doch auch todlangweilig, da "postdramatisch" und somit ästhetisch auf der sicheren Seite. (Ronald Pohl, 26.3.2018)