Dass sich Menschen meiner Profession wünschen, dass eine Geschichte dann, wenn sie dem Publikum vorliegt, veraltet und überholt ist, dürfte eher selten vorkommen. Zumindest in Bereichen, in denen nicht Krieg, Elend und tatsächlich Schreckliches beschrieben wird: Ja, über das Wetter zu jammern, wenn einen keiner zwingt, rauszugehen, ist vermutlich ein sehr guter Beleg dafür, dass es einem ziemlich gut geht.

"First world problems" trifft es da. Erst recht, wenn im Kleingedruckten steht, dass die zwei Nasen, die da an einem eisigen Dienstag knapp nach sieben Uhr morgens so anklagend posieren, keine Bürojobs haben, die es ihnen unmöglich machen würden, anders als im Early-Bird-Modus ihr tägliches Pensum an Bewegung abzuspulen.

Foto: Thomas Rottenberg

Trotzdem: Langsam reicht es. Und auch wenn der Morgenlauf am Dienstag der vergangenen Woche hammerschön war, weil er alles vereinte, was einen Winterlauf im Schlosspark nur schön machen kann, hab ich jetzt genug davon: Ja, es ist ein Traum, in Schönbrunn zu laufen, wenn da außer ein paar anderen Spinnern noch niemand sonst (insbesondere keine 150-köpfigen, ihren Selfie-Spießen hektisch nachjagenden aisatischen Touristengruppen) unterwegs ist. Und: Nein, das richtet sich nicht gegen Asiaten. Aber erfahrungsgemäß sind die meist ein paar Stunden früher unterwegs als alle anderen. Und: Ja, es ist ein Traum, wenn man in der Früh in Schönbrunn laufen kann – und es schon hell ist.

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Es ist auch ein Traum, hier im Schnee zu laufen. Ganz besonders dann, wenn er frisch gefallen und praktisch unberührt daliegt. Hoch (oder tief) genug, dass man spürt und vielleicht sogar hört, wie er sich unter den Sohlen weich dem Profil der Schuhe anpasst. Aber doch wenig genug, dass man auch mit einem flachen Straßenlaufschuh keine Sekunde ins Rutschen oder Schwimmen kommen oder gar einsinken würde. Dass Eva hier Trailschuhe trägt, hat einen anderen, ganz banalen Grund: Sie hatte keine anderen griffbereit.

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Und der Blick über den Park, das Schloss und die Stadt – und so weiter und so fort: Dass es hier schön, richtig schön, ist, muss nicht eigens erklärt werden. Nur wegen des guten Marketings kommen nicht Millionen von Touristen jedes Jahr hierher. Und auch wenn die Habsburger nicht ganz so experimentierfreudig und stilsicher-verspielt waren wie die Esterházys oder ein gewisser Prinz Eugen von Savoyen, haben sie auch schon gewusst, was schön ist. Was wirkt. Und wie man Landschaft so gestaltet, dass man auch beim 1000. Besuch noch immer etwas neu sieht. Oder anders. Egal, ob man flaniert oder rennt – man muss lediglich die Augen offen halten.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber trotzdem: Es reicht. Und das hat nix mit Schönbrunn zu tun. Aber an einem Dienstagmorgen auf den (zum Glück menschenleeren) Ostermarkt vor dem Schloss zu kommen und bei minus drei Grad von einem reschen Eiswind empfangen zu werden muss echt nicht sein.

Ostern heißt nämlich Frühlingserwachen. Freude. Wiedererwachen der Lebensgeister. Sonne. Und, ganz wichtig: Wärme. Ein bisserl zumindest. Vor allem dann, wenn es doch eh schon, wenn auch nur kurz, warm war: Das Leben beginnt wieder. Man darf sich darauf, darüber und dabei freuen. Weil der Winter, die Kälte, das Dunkle besiegt ist.

Ich weiß, ich wiederhole mich. Das hatten wir auch letzte Woche schon hier. Aber da war es schließlich ebenfalls kalt. Zu kalt. Obwohl ich eh weiß, dass über das Wetter zu jammern nicht hilft, sondern alles nur schlimmer macht. Weil man dann aufs Elend und nicht aufs Schöne fokussiert.

Foto: Thomas Rottenberg

Deshalb wechsle ich auch umgehend das Thema. Obwohl auch das mit der Kolumne von letzter Woche zusammenhängt. Genauer: mit einem Posting, das dann gelöscht wurde. Nicht weil es an sich problematisch war, sondern weil es in einem Thread stand, dessen erste Wortmeldung (ich habe sie nicht mehr im Kopf) allem Anschein nach den Forenregeln widersprach. Der Kollateralschaden: Auch die Anmerkung, dass man in Wien de facto nirgendwo vernünftig laufen könne, verschwand. Schade drum. Denn sinngemäß wurden da 1000 Gründe angeführt, warum man in dieser Stadt nicht laufen könne.

Nach Schönbrunn zum Beispiel gelange man nur "durch eine Verkehrshölle" – daher sei der Park praktisch unerreichbar. Und auch sonst seien akzeptable Laufzonen so gut wie nicht verfügbar.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz ehrlich? So etwas ärgert mich. Aber ich wollte diesmal ein bisserl mehr als den für derartige Anlässe passenden Satz "Wer will, findet Wege, wer nicht will, hat Ausreden" kontern. Und zwar ohne mir da ein besonderes Setting zu überlegen: Für Donnerstag hatte ich ein sogenanntes "Aerobes Komplextraining" im Plan stehen. Der Name ist egal, die Aufgabe einfach: Zwei Kilometer locker einlaufen, einer Vollgas, sechs Kilometer locker mit ein paar kleineren Steigungen, dann wieder einer Vollgas. Zum Abschluss drei zügig – und ein bis zwei Kilometer auslaufen.

Auf der Hauptallee pendelt man bei so was halt dreieinhalbmal hin und her. Aber: Geht das auch, ohne nur einen einzigen Meter der Strecke zweimal zu rennen? Nicht nur "verkehrshöllen-", sondern kreuzungsfrei? Mit nichtmonotonem Donauinsel-Stadtbild – und der Option, nicht nur öffentlich an- und abzureisen, sondern es bei Bedarf nie weiter als zwei Kilometer bis zur nächsten U-Bahn, zum nächsten Citybike-Terminal zu haben?

Foto: Thomas Rottenberg

In Wirklichkeit ist das ganz einfach. Man muss nur wollen. Ich fuhr mit der U3 bis Erdberg und ging ein paar hundert Meter stadtauswärts. Auch ohne die "Laufe kreuzungsfrei"-Vorgabe wäre ich bis zur Ampel bei der Abzweigung zur Arena gegangen: Nach 200 Metern Laufen an einer Fußgängerampel halten ist unlustig – da fange ich lieber erst später an.

Rauf übe die Radweg-Schnecke auf den Gaswerksteg, Mit Blick vom Kahlenberg über die City bis zu den Gasometern geht es über Donaukanal und Flughafenautobahn – und schon bin ich im Prater.

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Über die Belvedere-Allee geht es dann schnurgerade und unter der Bahntrasse durch zum Lusthaus. Das Wetter meint es beinahe frühlingshaft gut mit mir: strahlend schön – und doch beißend kalt.

Streng genommen stoße ich beim Lusthaus nach ziemlich genau zwei Kilometern dann zwar auf Straßenverkehr – aber der findet dort meist nur theoretisch statt. Und die Hauptallee ist ja autofrei, schnurgerade und brettleben: langweilig, aber ideal, um Vollgas zu geben.

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Sechs Kilometer locker mit kurzer, leichter Steigung gehen im Prater aber beim besten Willen nicht. Also biege ich unter der Tangente ab. Der "Hügel" ist die Brückenrampe, ein paar Höhenmeter hole ich mir auch, weil ich auf der Insel dann genau unter der Autobahnbrücke durch die schottrigen Mulden laufe – und dann "hinauf" zur U2-Station Donaustadtbrücke.

Auch hier "schummle" ich: Um an die Alte Donau zu kommen, geht es über eine zweispurige Straße. Aber auch an diesem Zipfel des Kaisermühlendamms habe ich noch nie Autoverkehr erlebt, der diesen Begriff auch nur ansatzweise verdient.

Und der doppelte Spazier- und Radweg die untere Alte Donau hinauf ist für Autos No-Go-Zone – mit Blick auf das alte und das neue Wien.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Schöne an leichten Trabstrecken: Man kann, darf und soll sogar ein bisserl spielen. Ein paar Lauftechnikübungen. Ein bisserl Stabi-Training. Und hin und wieder eine Umkehrhaltung: Es ist jedes Mal wieder spannend, zu spüren, wie langsam oder rasch der Körper sich an andere als gewohnte Positionen anpasst. Welche Muskelgruppen da plötzlich arbeiten. Wie das Selbstvertrauen wächst und die Angst vor dem Umkippen kleiner wird. Wie man – wenn man mitunter doch kippt – lernt, dass man ohne Angst weich und rund rollt, mit Angst aber stocksteif fällt. Wie oft Selbstwahrnehmung ("Kerzengerade!") und Außensicht ("Oida, wos soi d’n des hatschate G’stöl sein?") nichts gemein haben.

Aber auch, wie sich viele mentale und emotionale Knoten wie von selbst lösen, wenn man Perspektive und Fokus für zehn oder 15 Atemzüge auf den Kopf stellt

Foto: Thomas Rottenberg

Die Untere Alte Donau wird durch die Wagramer Straße von der Oberen Alten Donau getrennt. Die gilt für Menschen, die sich nicht über die ampelgeschützten Zebrastreifen nach Schönbrunn trauen, wohl als "Verkehrshölle", wird aber zum Glück vom Rad- und Spazierweg unterquert. Danach, an der Rückseite der Uferschreberhäuschen, läuft man technisch gesehen auf einer Straße. Es gäbe auch einen Gehsteig, aber irgendwie benutzt den kaum je ein Läufer. Vielleicht ja auch, weil hier fast kein Verkehr ist. Und (Schlaumeiermodus an) eine Straße "entlanglaufen" heißt ja auch nicht, sie zu überqueren. Ganz abgesehen davon landet man dann ohnehin bald wieder auf einem netten, geschotterten Spazierweg mit Traumblick auf die Bäder der Oberen Alten Donau und die Skyline des modernen Wien: Zeit, wieder für einen Kilometer Gas zu geben.

Foto: Thomas Rottenberg

Über den Birner-Steg geht es dann beim Angelibad über das teils immer noch vereiste Wasser. Drei Kilometer zügig – dann auslaufen, sagt der Plan als letzte Etappe: Nach rechts käme jetzt nach ein paar hundert Metern der Hundebadeplatz und dann gleich die U6-Trasse. Durch die Station "Neue Donau" käme ich über die Brücke mit dem unendlich einfallsreichen Namen "Steg an der Nordbahn" via Donauinsel über die Donau zur Millennium City – und könnte dann entweder donauabwärts zur Reichsbrücke oder quer durch den 20. Bezirk zur Spittelau laufen. Könnte, denn ich kenne mich: Das Programm hab ich eigentlich durch. Wenn ich jetzt bei einer U-Bahn vorbeikomme, laufe ich nicht weiter, sondern steige ein.

Foto: Thomas Rottenberg

Also geht es nach dem Angelibad nach links. Über das Dragonerhäufel, mit einem wirklich netten, von mir noch nie bewusst wahrgenommenen Blick hinüber zur Kirche am Kinzerplatz, und die Angeliwiese schnurgerade Richtung Kleingartenanlage. Der Weg, der aussieht, als würde er an irgendeinem Zauneck anstehen, ist in Wirklichkeit keine Sackgasse. Aber wer nicht weiß, dass es zwischen den Zäunen und Mauern weitergeht, dreht meist um, bevor er (oder sie) sieht, dass es einen Durchschlupf gibt.

So mag ich Wien – und jedes Mal, wenn ich dann plötzlich auf der Arbeiterstrandbadstraße stehe, muss ich grinsen. So als hätte ich ein Geheimnis entdeckt. Dabei müsste man nur auf den Stadtplan schauen, um zu sehen, dass dieses Geheimnis gar keines ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Gut, jetzt muss ich dann doch über eine Straße. Und auch wenn an einem Donnerstagvormittag hier weniger als wenig los ist, ist die Arbeiterstrandbadstraße kein ganz so verträumtes Nebenwegerl.

Die Garmin vibriert: 13 Kilometer. Jetzt also nur mehr Austraben im Schatten von Donauturm und Donaucity. Wenn das jetzt nicht mehr ganz die vorgegebenen zwei Kilometer werden, wird es auch okay sein. Aber dann sehe ich den Zug. Zum allerersten Mal. Ungelogen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin in Wien geboren und hier aufgewachsen. Ich habe den Großteil meines Lebens in dieser Stadt gewohnt, aber den Zug, der durch den Donaupark fährt, habe ich noch nie gesehen: die Schienen schon, aber eben nie den Zug. Jetzt kreuzt er schräg vor mir den Weg. Menschenleer, bis auf den Lokführer und den Billeteur. Und einen Stapel Gartenmöbel.

Der Schaffner winkt mir zu, und ich gebe Gas: Nach ein paar hundert Metern habe ich den Zug ein- und überholt. Der Lokführer tut mir den Gefallen, so zu tun, als hätte er versucht, mich nicht gewinnen zu lassen. Jo eh …

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Von hier trabe ich dann wirklich nur noch ganz locker aus. Durch die Donau City. Vorbei am Konferenzzentrum. Hinüber zur U1. Ein paar Stiegen hinunter, über die Busspur – und rauf auf den Bahnsteig: 14,3 Kilometer. In einer Stunde und 15 Minuten. Stressfrei.

Mission accomplished: Wer in dieser Stadt keinen Ort und keine Strecke zum Laufen findet, der will einfach nicht.

Nicht dass ich daran gezweifelt hätte – aber hin und wieder muss man sich das, was man ohnehin weiß, auch wieder selbst beweisen. (Thomas Rottenberg, 28.3.2018)

Der Lauf auf Strava: https://www.strava.com/activities/1465413878


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