Unter medialem Druck führte der Fall von Tulln erstmals zu einer serienweisen DNA-Untersuchung (Symbolfoto).

Foto: iStock

Wien / St. Pölten – Wenn Politiker etwas zu präsentieren haben, tun sie das üblicherweise so laut und öffentlich wie möglich. FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache nutzt dafür gern seinen Facebook-Kanal. So auch am Mittwoch, als er seine Pressekonferenz mit der Sozialministerin bewarb. Doch ein Thema gab es, das ihm noch wichtiger war als sein eigener Auftritt: Den prominentesten Platz auf seiner Facebook-Seite widmete er einem "Krone"-Bericht zum Vergewaltigungsurteil in St. Pölten (Eine Zusammenfassung des Falles können Sie hier nachlesen).

Der Freispruch der zwei angeklagten Asylwerber sei "unerträglich und skandalös", so Strache in seinem Kommentar zum nicht rechtskräftigen Urteil. Niederösterreichs FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl legte nach: Österreicher seien offenbar "vor der Justiz benachteiligt gegenüber Zuwanderern".

Politik schürt Empörung

Für Opfer sexueller Gewalt macht es keinen Unterschied, ob der Täter ein Migrant ist oder nicht – sie haben mit den Folgen oft ein Leben lang zu kämpfen. Für Politiker mancher Parteien sehr wohl. Mitte Mai 2017, mehr als zehn Monate vor dem Freispruch im Tullner Fall, verkündete der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP): "Angesichts dessen, was diese Verbrecher dem Mädchen angetan haben, ist die volle Härte des Gesetzes gefordert." Er verhängte einen Aufnahmestopp für Asylwerber in Tulln. Es gebe "null Toleranz gegenüber straffälligen Asylwerbern", so Eisenschenk. Unschuldsvermutung hin oder her – für den Lokalpolitiker waren die Verdächtigen bereits vorverurteilt.

Die FPÖ versuchte den Bürgermeister noch zu übertrumpfen – und forderte, alle Flüchtlingsheime der Stadt sollten ab sofort streng bewacht oder überhaupt zugesperrt werden. Ganz so, als gäbe es nicht nur zwei Tatverdächtige, sondern als wären alle Flüchtlinge, egal ob Männer, Frauen oder Kinder, potenzielle Gewalttäter.

Auch im vergangenen Nationalratswahlkampf waren Sexualstraftaten ein Thema. ÖVP und FPÖ versuchten mit der Ankündigung höherer Strafen für sexuelle Gewalt, um die Zustimmung der Wähler zu buhlen. Diese Strafrechtsreform soll nun kommen. Hätte sie aber im Tullner Fall zu einem anderen Ergebnis geführt – etwa zu einer gerichtlichen Verurteilung? Nein. Denn ohne bewiesene Schuld keine Strafe – eine Schuld war den beiden Angeklagten aus Sicht des Schöffensenats aber eben nicht nachweisbar.

Richter unter Druck

Der aggressiven Polemik rund ums Thema Kriminalität und Migration können sich auch Gerichte nicht entziehen, glaubt Arno Pilgram vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS). Auch Richter sind Menschen, ihre Namen im Netz auffindbar, oft würden sie unter Druck gesetzt, beschimpft, auch bedroht. Diesem Druck standzuhalten sei nicht immer leicht, so Pilgram: "Nicht jeder ist so furchtlos." Insofern überrasche das St. Pöltner Urteil. Zudem finden öffentliche Einstellungsmuster auch in der Urteilspraxis ihr Echo. In der Ära Schwarz-Blau I etwa sei der konstante Rückgang der gerichtlichen Verurteilungen spürbar gebremst worden. Dass sich veränderte Werthaltungen in der Gerichtspraxis widerspiegeln, sei nicht unbedingt schlecht, so Pilgram: Einer von der Gesellschaft völlig abgehobenen Justiz vertraue man nicht.

Die geplanten höheren Strafen für Sexualgewalt könnten für die Opfer sogar negative Folgen haben, meint Sexualstrafrechtsexpertin Birgitt Haller vom Institut für Konfliktforschung: Vor allem dann, wenn das Opfer den Täter kennt, würden drakonische Strafen es vor einer Anzeige eher zurückschrecken lassen als weniger hohe Sanktionen. Es gäbe dann womöglich noch weniger verurteilte Taten als heute.

Dass die Justiz bei Sexualgewalt zu milde vorgeht, ist ein oft geäußerter Vorwurf. Aus Sicht der Opfer sei eine harte Bestrafung des Täters nicht vorrangig, sagt Haller. Studien hätten gezeigt, dass "Opfer kein Rachebedürfnis haben", sondern sich vor allem eine Anerkennung des Unrechts wünschen. Es mache also keinen großen Unterschied, ob die Strafe höher oder milder ausfalle. Ein Freispruch, obwohl der Angeklagte tatsächlich der Täter war, könne aber zu schweren traumatischen Verletzungen führen. Hier sei die psychosoziale Opferbegleitung wichtig, die in solchen Prozessen angeboten wird. Eine gute Beratung vermittle, dass ein Freispruch nicht bedeute, dass man das Opfer der Lüge bezichtige.

Aufwendiges Verfahren

Fest steht: Gericht und Staatsanwaltschaft in St. Pölten standen unter medialem Druck. Es wurde mit großem Aufwand ermittelt, 65 Männer wurden zum DNA-Test geladen – eine solche Reihenuntersuchung gibt es sonst nie. Das Gericht hat sich trotzdem, deswegen oder ungeachtet dieses Drucks für einen Freispruch entschieden – und wird nun von unterschiedlichen Seiten dafür kritisiert. Kriminalsoziologe Pilgram plädiert, nicht von Einzelurteilen auf Gesamttendenzen in der Strafjustiz zu schließen. Tendenzen könne man nur aus Statistiken ablesen. Und die würden eines klar zeigen: dass man als Täter für ein und dieselbe Tat deutlich härter bestraft wird, wenn man ausländischer Herkunft ist. (Maria Sterkl, 28.3.2018)