Die jungen Leute wollen "ihr" Dorf nicht verlassen, doch die Staatsanwaltschaft droht ihnen mit Geldbußen und Haftstrafen.

Foto: Reiner Wandler

Der Weg zur Quelle muss frei bleiben, denn das spanische Dorf Fraguas wird mit Wasser versorgt, das aus einer nahe sprudelnden Quelle stammt.

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Die Schneelast hat Sträucher und Bäume geknickt. Zu sechst ziehen sie los, mit einer Motorsäge, einer Axt, einer Sichel und Heckenscheren. "Den Pfad zur Quelle säubern", sagt Isabel Turina. Die 30-Jährige ist eine jener 15 jungen Menschen, die derzeit dort leben, wo eine Rohrleitung das Quellwasser hinbringt – in Fraguas, einem kleinen Ort 120 Kilometer nordöstlich der spanischen Hauptstadt Madrid, am Fuße der Sierra Norte in der Provinz Guadalajara.

Seit 1968 war das Dorf, das die für rund 80 Personen die Heimat war, verlassen und vergessen. "Bis wir vor fünf Jahren kamen und mit dem Wiederaufbau begannen", berichtet Turina. "Selbstbestimmt leben", weit weg "von den kapitalistischen Marktmechanismen" ist ihr Ziel. "Wir beschließen alles gemeinsam auf Versammlungen, so auch wer wann was arbeitet." Die junge Frau, die ein Pädagogikstudium abgebrochen hat, gehört zu den sechs, die ständig in Fraguas leben. Der Rest sind Unterstützer von außen. Sie kommen für Wochen oder Monate, entscheiden und arbeiten gleichberechtigt mit, bevor sie wieder weiterziehen.

Drohende Haftstrafen

"Das Projekt funktioniert, wäre da nicht diese Anzeige", sagt Turina, die in Madrid aufgewachsen ist. Die Regierung der zentralspanischen Region Castilla-La Mancha, zu der die Provinz Guadalajara und damit Fraguas gehört, prozessiert gegen sechs von ihnen – darunter auch Turina.

"Die Staatsanwaltschaft fordert für unrechtmäßige Aneignung vier Monate Haft und 600 Euro Bußgeld. Hinzu kommen zwei Jahre Haft und 2.250 Euro Strafe, weil wir bauen, wo es nicht erlaubt ist", sagt Turina. Und obendrein soll die Gruppe 27.000 Euro bezahlen, damit ihr Werk dem Erdboden gleichgemacht werden kann. Im Frühjahr wird das Hauptverfahren vor dem Strafgericht Guadalajara stattfinden.

"Fraguas gefiel uns sofort"

Das Gebiet rund um Fraguas gehört dem Staat. Turina, die, bevor sie nach Fraguas kam, in einem besetzten Haus in Madrid lebte und dann in verschiedenen Landprojekten mitarbeitete, zog Ende 2011 und Anfang 2012 mit Gleichgesinnten durch Zentralspanien. Unter ihrem Arm eine Liste verlassener Dörfer.

"Fraguas gefiel uns sofort", erinnert sie sich. Die Quellen am Berghang, die Orientierung nach Süden, der verlassene Olivenhain, die Obstbäume und das Ackerland, "der Ort war einfach perfekt". Noch im gleichen Sommer begannen Turina und neun weitere Mitstreiter mit dem Wiederaufbau der Gemeinde.

Räumung unter Franco-Diktatur

"Fraguas ist kein Dorf mehr", erklärt der Verantwortliche für die Provinz Guadalajara, Alberto Rojo, warum die Regionalregierung klagt. 1968 wurden die Einwohner gedrängt, den Ort zu verlassen, und bekamen eine kleine Entschädigung. Das Gebiet wurde zum Wald erklärt.

Es waren die Jahre der Diktatur unter General Francisco Franco. Widerspruch war nicht nur zwecklos, sondern auch gefährlich. Große Teile der Ländereien rund um das Dorf wurden mit in dieser Gegend nicht heimischen Fichten aufgeforstet. In den 1980ern – nach dem Ende der Diktatur – wurde das Gelände für Militärübungen genutzt. Mit Granaten und Mörsern legten die Soldaten alles – inklusive des Dorfs Fraguas – in Schutt und Asche. 2011 schließlich wurde das Gebiet von der spanischen Regierung zum Naturpark erklärt.

Brauanlage inklusive

"Fraguas war ein Dorf, warum soll es nicht wieder ein Dorf sein?", fragt Turina. Im ersten Sommer haben sie das Gemeinschaftsgebäude mit der Küche und Platz zum Essen und für Vollversammlungen aufgebaut. Daneben stehen die Bäder und das Lebensmittellager. Gegenüber liegt ein großes Gebäude mit Werkstätten für Metall- und Holzbearbeitung. Sogar eine Anlage zum Brauen von Bier befindet sich hier.

Der Strom für Fraguas stammt aus einer Solaranlage. Rund um den Ort haben die jungen Menschen zugewucherte Olivenhaine und Streuobstwiesen freigelegt, sie pflanzen Gemüse an, halten Hühner und Gänse.

Militärübungen weiter erlaubt

"Diese Aktivitäten sind mit einem Naturschutzpark nicht vereinbar", erklärt Rojo. Die neuen Bewohner wollen das nicht gelten lassen. "Trotz Naturparks ist es weiterhin erlaubt, Militärübungen abzuhalten, auch wenn die Armee dies derzeit nicht tut", beschwert sich Juan Carlos Mallada. Der 32-Jährige ist wie Turina ein Siedler der ersten Stunde.

Mallada, Elektriker von Beruf, ist der Einzige hier, der das Landleben von Kind auf kennt. Er kommt aus einem 2.500-Seelen-Ort im nordspanischen Huesca. Seine Eltern sind Landwirte. Warum er nicht in seinem Dorf geblieben ist? "Hier kann ich leben und arbeiten, wie ich will", sagt er. "Alternative und ökologische Anbaumethoden ausprobieren. Damit brauchst du bei mir zu Hause gar nicht erst ankommen." Und natürlich "ein anderes, selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen".

Petition gegen Räumung

Mehr als 66.000 Personen haben online eine Petition gegen die Räumung unterschrieben. Immer wieder bekommen sie in Fraguas Besuch von Umweltgruppen. Jäger bringen Fleisch vorbei. Menschen aus den umliegenden Orten spenden Baumaterial.

Auch die ehemaligen Einwohner von Fraguas stehen hinter ihnen. Sie kommen häufig vorbei, um ihre Familiengräber auf dem Friedhof am Berghang zu besuchen. Die neuen Siedler haben das Tor repariert und das Unkraut zwischen den Gräbern gejätet. So etwas schafft Sympathie.

"Wir würden die Leute von Fraguas gerne Gemeinden vorstellen, die unter Entvölkerung leiden und froh wären, junge Menschen aufzunehmen", sagt Rojo, der die Klage nicht zurückziehen will.

"Als wir hierherkamen, boten sie uns nichts an", erinnert sich Mallada an ihren Besuch 2013 bei den Behörden. Und jetzt wollen sie nicht mehr gehen. Zu viel Arbeit hätten sie bereits investiert. (Reiner Wandler aus Fraguas, 30.3.2018)