"System, für das ein Ozean der Gewalt nötig war": F. B. Wilderson III.

Foto: Wilderson

Das Zeitalter der Sklaverei ist überwunden, könnte man meinen. Doch warum west der Rassismus noch immer fort? Um die Logik der Sklaverei und somit des Rassismus zu verstehen, müsse man prähistorisch denken, meint Frank B. Wilderson III. Der US-Amerikaner ist ein Vertreter der Theorie des sogenannten Afro-Pessimismus.

Standard: Herr Wilderson, Sklaverei wird im Theorierahmen des Afro-Pessimismus nicht mehr als ökonomisch hervorgeleiteter Zustand beschrieben, sondern als ontologischer. Heißt das, der Sklave steht außerhalb der Familie der Menschheit?

Wilderson: Man muss nur sehen, was da ist: Es beginnt mit den ersten Afrikanern, die 625 von den Arabern versklavt wurden. Die Fähigkeit, Zivilgesellschaft und Verwandtschaftsverhältnisse zu denken, war immer mit der Zerstörung von Schwarzen verknüpft. Afro-Pessimismus sagt, dass Anti-Blackness eine notwendige Form des Mordes ist, durch welche die anderen erst wissen können, wer sie als Menschen sind.

Standard: Der Pessimismus liegt darin, dass dieser Zustand auch heute anhält?

Wilderson: Unser Pessimismus zielt zunächst gegen die Logik, dass Marxismus und Psychoanalyse im akademischen Feld das Leid der Schwarzen ausreichend erklären können. Dies geht zurück auf die Columbia-Professorin Saidiya Hartman, die in Scenes of Subjection, einer Kulturgeschichte der Sklaverei, untersucht hat, was es bedeutet hat, im Amerika des 19. Jahrhunderts schwarz zu sein – und festhielt, dass es keinen radikalen Bruch mit dieser Subjektivierungspraxis gegeben hat.

Standard: Die Radikalität dieser Theorie besteht im Grunde darin, dass sie die etablierten Pfeiler von dem, was man unter Humanität subsumiert, niederreißt. Was kommt zum Vorschein?

Wilderson: Ein Begriff steht im Zentrum: Gewalt. Gewalt operiert paradigmatisch und performativ. Schwarze Autoren wie James Baldwin oder Frantz Fanon haben darüber geschrieben, bis ihnen das, was sie entdeckt hatten, selbst unangenehm wurde. Der Soziologe Orlando Patterson macht folgendes Argument: Wenn man vom Paradigma unserer politischen Ökonomie ausgeht, läuft alles auf zwei Fragen hinaus: Wie viel muss ich heute tun, und wie lang muss ich es tun? Diese beiden Fragen verfolgen dich bis ins Grab. Der Ozean der Gewalt, der notwendig war, um ein solches System zu etablieren, geht nur in Revision, wenn ein Arbeiter die Zustimmung entzieht. Dann steigt die Gewalt wieder hoch. Alle Paradigmen funktionieren so. Um die Logik der Sklaverei zu verstehen, muss man jedoch prähistorisch denken. Die Gewalt, die man brauchte, um das Paradigma der Sklaverei zu begründen, wirkt auch dann weiter, wenn der Sklave seine Zustimmung zu dieser Beziehung gegeben hat. Ein anderes Biest.

Standard: Betrifft dies nicht auch andere Marginalisierte?

Wilderson: Frauen, Homosexuelle, farbige Menschen sind unterdrückte Subjekte der Menschheit. Schwarze sind das nicht. Sie sind die Folien, auf denen die Menschlichkeit überhaupt erst konzeptuell kohärent erscheint. Das bedeutet, dass die Gewalt gegen Schwarze für die psychische Gesundheit aller anderen notwendig erscheint. Das ist etwas ganz anderes als ein postkoloniales Subjekt: Die Gewalt gegen Algerier wurde mit der französischen Usurpation des Landes gerechtfertigt. Anti-Blackness-Gewalt produziert erst eine Präsenz in allen Menschen, die nicht schwarz sind.

Standard: Wie geht die Rigorosität dieser politischen Theorie mit einer Bewegung wie Black Lives Matter zusammen, die auch andere Minderheiten umfasst und für die Sie auch gearbeitet haben?

Wilderson: Wenn sich Schwarze organisieren und gegen etwas auftreten, hat das eine Kohärenz, die jeder verstehen kann. Viele, die unterdrückt werden, erleben diesen Aha-Moment: "Das ist so wie bei mir." Sobald man unter die Oberfläche schaut, entdeckt man jedoch, dass der schwarze Anspruch an kein Ende kommt. Der Endpunkt des politischen Diskurses ist erst der Anfang.

Standard: Es gibt keine Teleologie, kein Ziel, das man erreichen kann?

Wilderson: Es kann keines geben. In der Koalition gegen Polizeigewalt sind natürlich auch Hispanos, Muslime, Native Americans, aber um diesen Konsens zu finden, muss diese Koalition die Frage nach schwarzem Leid hintanstellen. Wenn die Farbigen ihren Teil des Kuchens abbekommen, dann sind sie so antischwarz, wie es auch der weiße Staat ist. Ein palästinensischer Freund hat mir einmal gesagt, dass es schlimm ist, wenn man an einem Kontrollpunkt von einem israelischen Soldaten abgetastet wird, aber noch schlimmer sei es, wenn es sich dabei um einen Äthiopier handelt. Das fand ich interessant! In einer unbewussten Identifikation ist es Anti-Blackness, was die Verbindung zwischen dem Israeli und ihm herstellt – es ist der Konsens, der sie zusammenhält und sie Krieg führen lässt.

Standard: Ist es möglich, das Konzept des Afro-Pessimismus auf kulturelle Darstellungen zu übertragen? Wie stehen Sie zu Filmen wie "Get Out", in dem ein Schwarzer in die Gewalt einer weißen Familie gerät?

Wilderson: Mein Freund Jared Sexton hat Get Out einen afro-pessimistischen Film genannt. Er ist verblüffend. Eine Grundannahme ist ja, dass Schwarzsein stets Besitznahme durch jemand anderen ist. Hier wird dies wörtlich genommen. Das zeigt sich auch darin, dass weiße Amerikaner gerne Rap hören, aber nichts von dem damit zusammenhängenden Leid wissen wollen. Wenn wir bei einer kulturellen Praxis so stark sind, dann ist der Grund dafür, dass wir aus einer Leere heraus schöpfen, nicht aus einem kohärenten Gefühl von Verlust. (Dominik Kamalzadeh, 31.3.2018)