Es ist viele Jahre her, da stand in der ORF-Millionenshow ein Kandidat vor der letzten Frage. Über die richtige Antwort, was der Name des Himalaya-Massivs dem Wortursprung nach bedeute, klärte den damals ungeduldigen Zuschauer vor dem Fernseher nicht erst die Auflösung auf. Oder – so wie heute – ein Griff zum Smartphone. Es war ein dicker, dunkler Band aus dem Bücherregal. Die Lösung lautete "Schneewohnung". Dass der Zuschauer sich das seither gemerkt hat, liegt vielleicht auch am haptischen Erlebnis des Blätterns.
Es ist "Himalaya" nämlich nur eines von rund 300.000 Stichwörtern auf 24.500 Seiten in 30 Bänden. Doch mit ihnen allen ist seit 2014 Schluss. Da stellte der Bertelsmann-Verlag den Brockhaus ein. Das bekannteste, umfangreichste und allgemeinste Nachschlagewerk deutscher Sprache, über Jahrzehnte bildungsbürgerliches Kennzeichen in vielen privaten Bücherwänden. Ein paar Tausend Euro Anschaffungskosten für die Gesamtausgabe trugen neben den dicht bedruckten Seiten zwischen den Buchdeckeln gewiss mit zum Nimbus bei. 200 Jahre hat der gedruckte Brockhaus durchgehalten.
Das Schicksal der Überflüssigkeit ereilt jetzt auch den immerhin 60 Jahre alten Fischer Weltalmanach. 1959 gestartet, erscheint er heuer am 19. September zum letzten Mal. Diese Entscheidung gab der Verlag bekannt, sie sei ihm schwergefallen, ließ er wissen. Denn es handle sich bei der Reihe um einen Beitrag zur "Demokratisierung des Wissens". Die "publizistische Grundlegung einer offenen Gesellschaft" nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs war einst Absicht. Doch die (zahlende) Kundschaft für ein "inhaltlich wie produktionstechnisch so ungeheuer aufwendiges Projekt" gebe es im Zeitalter der Internetrecherche nicht mehr.
Etwas zum Entdecken
Im Gegensatz zum Brockhaus erschien Der Fischer Weltalmanach immer in Taschenbuchform. Den 2005er-Jahrgang hat der Autor dieser Zeilen 14-jährig in die Hände bekommen. Zwar gab es das Internet damals schon lang. Aber was der Band für kleines Geld (mit 22 Euro reißt er kein Loch ins Portemonnaie) trotzdem alles zu entdecken bereithielt! Das Versprechen von "Zahlen, Daten, Fakten" aus Politik, Wirtschaft, Umwelt, Sport und Kultur schmückte schon den Umschlag.
Dahinter harrten Tabellen, Karten, Fotos und Grafiken zu allen Nationen des Globus, Biografien wichtiger Persönlichkeiten, Recherchen zu wechselnden Schwerpunktthemen und eine Auflistung der je entscheidendsten Jahresereignisse. Die Anschrift der Unesco? Kein Problem. Die Bevölkerungsdichte St. Lucias? Laut Erhebung von 2002 rund 260 Menschen je Quadratkilometer. Alle eingeladenen Produktionen des Berliner Theatertreffens im Jahr 2004? Auch die ließen sich finden.
Der Fischer Weltalmanach ist ein Datenbecken für Momentaufnahmen. Das hat Vor- und Nachteile. Den Wissensstand anno 2018 festzustellen wird anhand des Internets in 20, 40 oder 100 Jahren wohl schwieriger zu bewerkstelligen sein, als den von 1980 mittels einer gedruckten Enzyklopädie zu rekonstruieren. Aber das ist eher etwas fürs Archiv und Feinspitze als für gerade informationsbedürftige Nutzer. Die Bezeichnung Almanach geht auf das ibero-arabische "almanah" zurück, das "Kalender" bedeutet. Im Mittellateinischen wurde das Wort zu "almanachus" und bezeichnete ein astronomisches Jahrbuch. Nach und nach wurde dieses mit anderen Daten und Informationen wie Festen, Genealogien und Anekdoten angereichert. Daraus entwickelten sich Almanache zu Schriften zu verschiedenen thematischen Bereichen: Literatur, Nautik, Geologie usw.
In einer Ära allzeit digitaler Verfügbarkeit stets neuester und überhaupt fast aller Weltdaten muss diese Recherchesammlung nun aber aufgeben. Seit 2012 hieß er Der Neue Fischer Weltalmanach, er hat sich auf CD-Rom und online verbreitert, doch hat es nichts genützt. Bald wird auch dieser zweite Elefant im Bücherregal nicht mehr sein. Dass sein Ende gerade im Zeitalter von Fake-News eintritt, wirkt irgendwie folgerichtig und zugleich wie eine unlustige Pointe. Es spricht gerade manches gegen solche Druckwerke.
Die Kritik und der Klick
Einerseits herrscht Gratismentalität. Was immateriell ist, daran haben wir uns gewöhnt, kann man auch für lau kriegen. Seien es Musik, Filme oder eben Informationen. Im Internetzeitalter ist es zudem einfach wie nie, für Informationen direkt an die Quellen zu gehen. Die vermittelnde Zwischeninstanz braucht man – zum Teil begründet, zum Teil vermeintlich – nicht mehr, wenn man selbst Zugriff auf Statistiken und Co hat. Die Kritikfähigkeit hinkt der Klickfähigkeit aber hinterher. Etwa wenn der US-Präsident ungefiltert twittert oder Parteien Propaganda ins Netz posten.
Das führt auch zur Zersplitterung. Wie verantwortungsvolle Medien kann das Nachschlagewerk gerade da ein Bollwerk der "Objektivität" auch in dem Sinne sein, dass sie allen Nutzern dasselbe sagen. Es gibt dort keine maßgeschneiderten Werbeanzeigen und Informationsgaben wie auf Google und Facebook, das dafür gerade im Zentrum einigen Wirbels steht. Das Lexikon richtet sich egalitär an alle. Als gemeinsame Grundlage, als kleinster gemeinsamer Nenner wirkt es einer Blasenbildung entgegen.
Aber was nützt das, wenn in Teilen der Bevölkerung ein Misstrauen gegenüber "Eliten" vorherrscht? Mögen sich viele zwar politisch nach dem starken Mann sehnen – so etwas wie Autorität ist zugleich oft verpönt. In den sozialen Medien kann jeder selbst aussenden. Das Informationsrad dreht sich immer schneller. Wenigstens das Guinness-Buch der Rekorde, diese Leistungs- und Kuriositätenschau des Menschlichen, erscheint weiter gedruckt – wie der Duden. Wobei auch er online ergiebiger ist. (Michael Wurmitzer, 2.4.2018)