Bild nicht mehr verfügbar.

In diesem Gefängnis werden die griechischen Grenzsoldaten festgehalten.

Foto: REUTERS/Ilkyaz Savas

Nikolas Katsimpras: "Es ist nicht leicht, zwischen realen Drohungen und innenpolitischem Imponiergehabe zu unterscheiden."

Foto: privat

Ein türkisches Gericht in Edirne hat entschieden, zwei seit nun einem Monat inhaftierte griechische Grenzsoldaten weiter im Gefängnis zu behalten. Ihnen drohen möglicherweise fünf Jahre Haft wegen unerlaubten Übertritts auf türkisches Gebiet und angeblicher Spionage.

Ganz ausgeschlossen ist aber nicht, dass die beiden Griechen vor dem orthodoxen Osterfest am kommenden Wochenende doch noch plötzlich freigelassen werden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte dies beim EU-Türkei-Gipfel in Warna empfohlen und sich während des gemeinsamen Auftritts vor der Presse dabei direkt an den türkischen Staatschef Tayyip Erdoğan gewandt. Nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats in Ankara am vergangenen Mittwoch hieß es, die Türkei werde in Bezug auf Griechenland und Zypern bei ihren eigenen Interessen nicht einfach Zugeständnisse machen. Allerdings betonte Ankara das Prinzip der "guten Nachbarschaft" mit Griechenland. Die griechische Seite wiederum kündigte die Eröffnung dreier weiterer Visastellen für türkische Inseltouristen in Ayvalık, Çeşme und Kuşadası an.

Nikolas Katsimpras, griechischer Politikwissenschafter und ehemaliger Marineoffizier, der an der Columbia University in New York unterrichtet, schätzt die neuen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei als sehr ernst ein:

STANDARD: Wie nahe an einem militärischen Konflikt stehen Griechenland und die Türkei derzeit?

Katsimpras: Das Risiko ist jetzt beachtlich, entweder aus strategischen Überlegungen der Türkei oder wegen eines unabsichtlichen Unfalls. Und das ist keine Überraschung. Die Türkei hat in der Ägäis in den vergangenen vier Jahrzehnten ein konstantes Spannungsniveau aufrechterhalten, vor dieser Zeit aber akzeptierte die Türkei den rechtlichen Status quo in der Ägäis: Griechische Inseln waren unbestritten griechisch und türkische Inseln unbestritten türkisch. Die türkische Seite versucht dies zu ändern, für die griechische bleibt es dabei – sie hat null Ansprüche.

STANDARD: Wann begann Ihrer Ansicht nach der Gesinnungswandel in Ankara?

Katsimpras: Die Türkei hat in den 1970er-Jahren angefangen, den Status quo in der Ägäis durch herbeigeführte Krisen und tägliche Verletzungen des griechischen Territoriums zu stören. In den 1990er-Jahren begann die Türkei die Grenzen in der Ostägäis infrage zu stellen. Sogar eigene, alte türkische Landkarten wurden neu gedruckt, um griechische Inseln nun mit türkischen Namen aufzuführen und Teile der Grenze neu zu ziehen. In den vergangenen zwei Jahren aber haben türkische Regierungsvertreter begonnen, erstmals öffentlich zu erklären, dass eine Anzahl griechischer Inseln türkisch ist. Dabei geht es um Inseln, die unzweifelhaft griechisch sind – Inseln mit griechischen Einwohnern, beliebte Urlaubsziele und Inseln, die griechische Fischer und Hirten seit Jahrhunderten nutzen.

Hinter einem großen Teil der türkischen Strategie stehen wirtschaftliche Interessen in der Ägäis und auf Zypern, die sich entwickeln. Aus diesem Grund sehen wir nun auch eine Eskalation der Drohungen, sowohl qualitativ wie quantitativ. Einige dieser Ansprüche sind rein für innenpolitische, nationalistische Zwecke. Andere jedoch sind tatsächliche Bedrohungen der Souveränität Griechenlands, Zyperns und der EU-Außengrenzen. Es ist nicht leicht, zwischen realen Drohungen und innenpolitischem Imponiergehabe zu unterscheiden – vor allem nach dem historischen Anstieg türkischer Aggressionen im vergangenen Jahr.

STANDARD: Sie haben schon nach dem Jahr 2016 über eine "neue Normalität in der Ägäis" geschrieben und damit den Anstieg von Grenzverletzungen in der Luft und auf See gemeint.

Katsimpras: Richtig, und dann kam 2017. Die Zahlen sind wirklich alarmierend. 2017 war ein Rekordjahr für Verletzungen des griechischen Luftraums und der nationalen Gewässer durch Militärjets und Schiffe. Türkische Kampfjets dringen seit Jahrzehnten mehrmals am Tag in den griechischen Luftraum ein. Viele der Maschinen sind auch bewaffnet. Die Zahl dieser Luftraumverletzungen schwankte jahrelang zwischen 600 und 1.600, 2017 aber wurden 3.600 Luftraumverletzungen registriert – ein Anstieg um mehr als 200 Prozent verglichen mit 2016. Zwischen 2010 und 2016 drangen türkische Marineboote im Jahr etwa 300-mal in griechische Gewässer ein, im Jahr 2017 schoss diese Zahl auf mehr als 2.000 hoch – mehr als 600 Prozent Zuwachs. Jede einzelne dieser Provokationen ist von den griechischen Luftstreitkräften und der Marine abgefangen und beendet worden. Solche hohe Zahlen eines engen Aufeinandertreffens zweier Militärkräfte lassen die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls aber steigen, vor allem wegen des aggressiven Verhaltens der türkischen Kräfte. Am 1. März sind zwei griechische Armeeoffiziere während einer Routinepatrouille entlang der Landesgrenze im Norden von türkischen Einheiten festgenommen worden. In der Vergangenheit sind solche Vorfälle nahezu sofort geregelt worden, indem die Armeechefs beider Seiten direkt miteinander sprachen. Dieses Mal ist es anders. (Markus Bernath, 31.3.2018)