Protestkultur anno 1968: "Brecht die Macht der Manipulateure" von Helke Sander.

Deutsche Kinemathek

Man muss die Analogie zur Vergangenheit nicht lange suchen. Die durch Paris marschierenden Demonstranten, Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF, ziehen sie diesen März selbst. Auf der Place de la République, am Sockel der Marianne-Statue, steht in rot-blauen Farben "Mai 68. Sie gedenken. Wir fangen wieder an". Die Sparmaßnahmen von Präsident Emmanuel Macron stoßen auf Widerstand. 50 Jahre nach dem "heißen" Mai will man sich nicht aufs passive Gedenken beschränken.

Bei Cinéma du Réel, dem im Centre Pompidou beheimateten Dokumentarfilmfestival, das mit der Kanadierin Andréa Picard in diesem Jahr eine neue künstlerische Leitung hat, wurde klug vorausgedacht: Pour un autre 68 – "für ein anderes 68" – lautet der Titel eines dort gezeigten Spezialprogramms. Es will die Bruchstellen von damals nicht auf den Pariser Mai verengen, sondern erweitern: auf andere Länder, auf parallele emanzipatorische Bewegungen.

In filmische Beispiele übersetzt heißt das, dass der Blick über den Kanon hinaus auf internationale Beispiele schweift. Die "Andersheit" würde sich, so der italienische Kurator Federico Rossin, dann darin zeigen, dass 1968 zur Chiffre eines internationalen Umbruchs wird, in dem ein gemeinsames "Ethos, ein tief sitzendes Momentum, eine ,antikapitalistische Konvergenz'" aufscheint.

Das Nahe und das Ferne

Die Trennschärfen zwischen dokumentarischen und experimentellen Formaten zählen da – ganz im Sinne des "Expanded Cinema"-Gedankens des Festivals – nur wenig. "Nam" vereint etwa sieben Kurzfilme, die sich mit dem Vietnamkrieg befassen, der aus der Ikonografie des 68er-Kinos nicht wegzudenken ist. Statt Nicht löschbares Feuer, Harun Farockis bekanntester Arbeit auf diesem Feld, ist sein sardonisches Kleinod White Christmas zu sehen, in dem zu Bing Crosbys Lied Bomben als tödliche Beschwerung aus den B-52 purzeln.

Das Nahe und das Ferne werden mit kontrastierenden Montagen zusammengerückt – ein Flächenbrand der Ideologien. Peter Nestlers Sightseeing unterlegt Shoppingszenen aus Stockholm mit einem Text von Peter Weiss über Vietnam. In Hard Core, dem bilderstürmenden Endpunkt dieses Programms, reduziert der Konzeptkünstler Walter de Maria den Krieg zur Westernallegorie in der Wüste von Nevada: 360-Grad-Schwenks über die Landschaft, dazwischen kurze Pistolenhalfteraufnahmen, bis sich am Ende der Schuss doch noch löst.

Pour un autre 68 stellte aber auch solche globale Brennpunkte zueinander in Beziehung, die auf der Landkarte von 1968 weniger prominent ausgeschildert sind. Leobardo López Arretches Kollektivfilm El Grito beispielsweise, der die Studentenproteste in Mexiko bis zum Massaker von Tlatelolco begleitet, bei dem 300 Studierende ermordet wurden. Von Indien bis zu revolutionärer Praxis im Nahen Osten wird an einer Erneuerung der Formen gefeilt. Besonders Christian Ghazis A Hundred Faces For a Single Day nimmt Godards Satz ernst: Es gelte, keine politischen Filme, sondern Filme politisch zu machen. Unter schrillem Sound stellt er der Passivität der libanesischen Bourgeoisie den Heroismus von Freiheitskämpfern gegenüber, ohne dass daraus simple Propaganda wird.

Ins kollektive Bewusstsein

Augenfällig wird, wie die Anleitung zu einem politisierten Blick auch mit einer Erweiterung des Dokumentarischen einhergeht. Mit kleinem Budget machten sich Filmschaffenden daran, die Proteste auf den Straßen ins kollektive Bewusstsein zu verlängern. Gegenöffentlichkeit hieß das damals: Helke Sanders Studentenfilm Brecht die Macht der Manipulateure attackiert die narkotisierende Berichterstattung des deutschen Springer-Konzerns (Bild-Zeitung) mit den Mitteln eines Brecht'schen Lehrstücks.

Solche medienpädagogischen Interventionen vermitteln auch heute noch wertvolle Einsichten. Zugleich lassen sie vermuten, dass die Ideologie der Transparenz im Zeitalter von "Alternative News" wohl schwieriger zu durchbrechen ist als damals. Pour un autre 68 darf man insofern als Aufruf verstehen: Akute Anliegen brauchen eine neue Form. Damals machte man Filme und fragte sich erst hinterher, ob sie eines Tages gezeigt werden würden, so Filmemacher Luc Moullet. Vielleicht findet sich ja eine heimische Institution, um das sehenswerte Programm zu übernehmen. (Dominik Kamalzadeh aus Paris, 1.4.2018)