Laura Harth, hier bei einem Auftritt vor Exil-Vietnamesen in Orlando, Florida.

Foto: Voice Of Kampuchea Krom Radio (VOKK)

Perugia/Wien – Eine "unveröffentlichte Story über Unterdrückung in aller Welt" verspricht eine Podiumsdiskussion beim Internationalen Journalismusfestival, das Mittwoch in Perugia beginnt. Auf dem Podium: die Juristin und Menschenrechtsexpertin Laura Harth von der "Radical Nonviolent Party". Was diese gar nicht radikale Organisation tut und wo sie Bedrohung und Unterdrückung sieht, hat Isabella Dussmann die Aktivistin gefragt.

Laura Harth ist Mitglied und Botschafterin der Radical Nonviolent Party, Transnational and Transparty (PRNTT). Diese hat nichts mit dem herkömmlichen Verständnis einer radikalen Bewegung zu tun – "radical" kommt zwar auch in diesem Fall von "radix", dem lateinischen Wort für Wurzel, meint also: "von der Wurzel ausgehend". Mit aggressiven radikalen Mitteln arbeitet die NGO hingegen nicht – in ihren Grundprinzipien beruft sie sich auf gewaltfreien Widerstand im Sinne von Mahatma Gandhi.

Die Organisation wurde 1955 als Menschenrechtsbewegung mit Fokus auf Scheidung und Abtreibung gegründet. Sie gilt als erste Gruppierung dieser Art, die seit Beginn mit rein gewaltfreien Methoden arbeitet, was in den Statuten verankert ist. Im Unterschied zu vielen anderen NGOs sei die PRNTT sehr politisch, sagt Harth.

Radical Nonviolent Party

1979 wurde eine Gruppe ihrer Mitglieder ins italienische Parlament gewählt. Diese waren in den Jahren danach viel in Osteuropa aktiv – so formten sich schließlich transnationale Teams. 1989 wurde beschlossen, die Organisation auf transnationale und auch transparteiliche Ebene zu heben. Die Radical Nonviolent Party sei ein ideologiefreier Raum, selbst Leute von weit rechts wie weit links zählten zu den Mitgliedern. Sie fänden hier eine Plattform, um zusammenzukommen, zu reden, sich zu beraten und Beschlüsse zu fassen.

Zwischen 2009 und 2013 gab es "direkte Repräsentanten" im EU-Parlament. Sonst tritt die Organisation nicht zu Wahlen an, einzelne Mitglieder oder Gruppierungen können dies jedoch ohne weiteres tun. 1995 erkannte die UN die PRNTT offiziell als NGO an. Ab diesem Zeitpunkt wurden die wichtigsten internationalen Kampagnen gestartet: die Abschaffung der Todesstrafe (in Kooperation mit dem internationalen Strafgericht), die Ad-hoc-Tribunale in Ruanda und Ex-Jugoslawien und das weltweite Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung. Mitglied werden, Vorschläge einbringen und mitabstimmen kann jeder, die Sitzungen sind offen für alle. Man will so transparent arbeiten, wie man es sich von PolitikerInnen und Institutionen wünscht.

"Der Rechtsstaat erodiert"

Laura Harth erklärt die Hauptanliegen der Organisation so: In Italien – aber auch international – müsse der Rechtsstaat gestärkt werden "Wir haben über 60 Jahre Erfahrung, wir haben beobachtet und analysiert, wie ein Rechtsstaat und das Rechtsstaatsprinzip erodieren", sagt Harth. Seit den 80ern werde Italien immer wieder vom Europarat verwarnt. "Zum Beispiel wegen der Haftumstände: In vielen Ländern sterben die Menschen im Gefängnis, aber die Selbstmordrate unter Inhaftierten hier ist enorm hoch. Und nicht nur unter Gefangenen, auch unter den Wärtern. Der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte nennt das ein 'System der Folter'."

Die PRNTT wolle etwas ändern und Gesetzesvorschläge lancieren. Der italienische Senat habe vor kurzem die Regeln für Volksbegehren geändert – wenn man nun pro Anliegen 60.000 Unterschriften innerhalb von sechs Monaten sammelt, muss der Senat zumindest das Thema besprechen. Außerdem sei das ein Weg, um der Öffentlichkeit Missstände vor Augen zu führen. Es sei jedoch nicht einfach, diese Unterschriften zu bekommen. Es gebe kein elektronisches System, eigens dafür bestimmte "offizielle Beglaubiger" müssten bereit sein, von Tür zu Tür zu gehen, um Unterschriften zu sammeln.

"The Right to know"

Eine weitere Kampagne heißt "The Right to Know". Es geht darum, Justiz und Judikatur zum Thema in den Medien zu machen. Auch im Zuge des Wahlkampfs würden sie nicht thematisiert, doch fast die Hälfte der Bevölkerung in Italien habe in Zivil- oder Strafverfahren damit zu tun. In internationalen Institutionen und Zeitungen werde häufig über eine nötige Wirtschaftsreform in Italien diskutiert – über eine aus Harths Sicht längst fällige Justizreform wolle aber niemand schreiben oder sprechen.

PRNTT hat dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Forderung nach besserer Aufklärung über politische Vorgänge als Fall vorgelegt. Man hofft auf Reaktionen internationaler Institutionen.

Laura Harth erklärt, warum das Recht auf Information, auf das Wissen um politische Entscheidungsprozesse basisdemokratisch einen enormen Stellenwert hat – oder hätte: "Der Irakkrieg wurde hinter geschlossenen Türen geplant, Kritiker und Gegner mussten draußen bleiben. Lügen wurden dem Parlament und der UN aufgetischt, um eine Entscheidung zu rechtfertigen, die bereits getroffen worden war. So etwas darf nicht möglich sein. Oder reden wir über den Einsatz von Drohnen in Kriegen. Wir sollten Mitsprache über solche Dinge haben. Wir brauchen Maßnahmen, die eine öffentliche Debatte möglich machen – von dem Moment an, wo ein politischer Vorschlag gemacht wird, über den ganzen Entscheidungsprozess hinweg. Wähler dürfen nicht im Dunkeln gelassen werden oder wichtige Informationen zu spät bekommen."

Cambridge Analytica und der Brexit

Harth glaubt, dass die Brexit-Abstimmung vielleicht anders verlaufen wäre und Cambridge Analytica nicht die Möglichkeit gehabt hätte, in einem solchen Ausmaß zu sabotieren, wenn es so etwas wie "The Right to know" gegeben hätte. Zur Erinnerung: Cambridge Analytica ist eine Datenerhebungsfirma, die Userdaten kauft, Profile auf Facebook analysiert und auf die jeweiligen Vorlieben der User zugeschnittene Werbung schaltet. Im Fall der US-Wahl 2016 verbreitete sie Trump unterstützende Inhalte. Politische GegnerInnen wurden mit gezielt verbreiteten falschen Behauptungen diskreditiert. Daten von Abermillionen Usern wurden unrechtmäßig verwendet.

Die in England agierende Datenanalysefirma AggregateIQ (AIQ) sei eng verbunden mit Cambridge Analytica. Boris Johnson und andere Mitglieder der Conservative Party, die die "Vote Leave"-Brexit-Kampagne betrieben, sollen 40 Prozent ihres Budgets in AIQ investiert haben.

Ein gutes Beispiel für mehr Transparenz hingegen sei das schottische Referendum, sagt Harth: Zwischen den Parteien wurden klare Regeln vereinbart und festgelegt. Dafür wurde zwei Jahre lang über Struktur, Themen, Redezeiten und ähnliche Regelungen debattiert. Man hätte eine geordnete Debatte beobachten können, unabhängig vom Ergebnis. Nicht so beim Brexit – und laut der jüngsten Umfrage wollten heute 51 Prozent der Briten in der EU bleiben, 41 Prozent seien für einen Austritt, dem Rest sei es egal.

Mafia als Quelle

Eine wichtige Rolle spielen Harths Meinung zufolge Investigativjournalisten, die Informationen ans Licht bringen, wenn etwas schiefgelaufen ist.

Mehrere Reporter, mit denen sie in Kontakt steht, arbeiten investigativ im Umfeld der Mafia. "Unsere Organisation ist natürlich gegen die Mafia, aber da wir uns mit Gefangenenrechten beschäftigen, ist sie auch eine wichtige Quelle. Deswegen glauben viele hier, wir lieben die Mafia. Andere Journalisten müssen versteckt leben, um sich vor ihr zu schützen. Es ist ein interessantes Paradoxon."

Bilder aus dem Krieg

Harth schildert ihre Erfahrungen mit Aktivisten in Gebieten, in denen Menschenrechte verletzt werden. Meist leben sie im Exil. Zu vielen dieser Orte hätten Menschenrechtsaktivisten keinen Zugang, wie zum Beispiel in China. Oft hätten Aktivisten keine Chance, ihre Familie oder Freunde zu kontaktieren, die Gefahr sei zu groß. Jahre können vergehen, ohne dass man wisse, ob sie in Gefangenschaft sind oder überhaupt noch leben.

Bilder und Berichte aus Kriegs- oder Krisengebieten verdanke man oft jungen, leichtsinnigen Journalisten, die auf der Suche nach Abenteuer und großer Story ohne Versicherung ihr Leben riskieren. Und auch dann wisse man oft nicht, was echt oder aktuell sei.

Die Organisation arbeitet eng mit der UNPO (Unrepresented Nations and Peoples Organisation) zusammen, in der unter vielen anderen Tibeter, die Uiguren, Abchasien und Bewohner des somalischen Ogaden vertreten sind. Auch Washington, D.C., ist dabei. Harth erklärt, dass die Einwohner des Bundesdistrikts Columbia keine Stimme bei der Kongresswahl hätten. Es sei ein großteils afroamerikanischer Distrikt, und noch dazu ein stark demokratischer. Würden sich diese zwei Faktoren in repräsentativen Stimmen abbilden, gäbe es zum Teil enorme Unterschiede bei den Ergebnissen. Die letzte Steuerreform, die vermögendere Haushalte begünstigt, wäre zum Beispiel vermutlich nicht durchgegangen.

Social Media und das Recht auf Informationen

Facebook gegenüber ist Harth sehr kritisch, lieber verwendet sie Twitter. Die Qualität der Nachrichten sei eine andere. Auch der Algorithmus und die Filterblase schränke immens ein. Einer Politikerin in Kambodscha seien Posts der Botschaft nicht angezeigt worden, denn Facebook testete dort und in anderen Ländern eine News-Feed-Einschränkung. Man konnte hier keine Postings öffentlicher Institutionen mehr sehen, nur noch solche von Freunden und gesponserte Inhalte – außer man wählte aktiv eine spezielle Einstellung. Die meisten UserInnen haben die Änderung nicht wahrgenommen.

Harth verweist auch hier auf das Recht auf Information, "the right to know". Man brauche Information darüber, was mit all unseren Daten geschieht, und die echte Möglichkeit zur Zustimmung. "Wenn ihr meine Daten verwendet und verkauft, warum verwende oder zahle ich dann für euren Service? Sie haben unser Privatleben zu einem Finanzmittel gemacht, sie handeln damit."

Soziale Überwachung in China

In China gäbe es jetzt in vielen Städten ein sogenanntes "Sozialkreditsystem" mit Punkten, die anzeigen, wie vertrauenswürdig man ist. Wenn man also zum Beispiel die falschen Freunde hat, zu schnell fährt oder in der Öffentlichkeit negativ auffällt, sinkt das Punktekonto, und es kann sein, dass man einen bestimmten Job nicht bekommt oder dass einem kein Pass ausgestellt wird. Wegen Schwarzfahrens oder fehlender Rückzahlungen dürfen bereits einige Chinesen dauerhaft nicht mehr den Zug benutzen oder Flüge buchen.

Harth sieht ähnliche Tendenzen in westlichen Ländern, und sie erklärt das so: "Zwar wird noch nicht der Inhalt deines Posts ausgewertet, zumindest nicht vom Staat. Aber wenn du zum Beispiel deine Gasrechnung zu spät zahlst, kommst du automatisch auf eine Liste. Du weißt nicht, dass du draufstehst, aber es kann zum Beispiel beeinflussen, ob du einen Kredit bekommst."

Demokratie, Sumpf und die Suche nach Sanktionen

"In den 90ern haben wir beobachtet, wie aus autoritären Regimen Demokratien wurden. In der Praxis sehen wir jetzt, dass heute im Rahmen des Rechtssystems oft genau das Gegenteil passiert. Die Verbindungen zu diesen Regimen gehen unter anderem auch nach Italien: Da sind chinesische Menschen, die um politisches Asyl anfragen, und nur circa zehn Prozent haben je eine Antwort erhalten. Die anderen bleiben in einem Zwischenstadium, jahrelang. Das alles nur, um die chinesische Regierung nicht zu erzürnen."

Der Präsident des Weltkongresses der Uiguren, Dolkun Isa, sei zum Beispiel eingeladen gewesen, vor dem italienischen Senat über schwere Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjan zu sprechen. Dolkun hielt sich 24 Stunden in Rom auf. In diesem Zeitraum sei er im Zuge einer Personenkontrolle stundenlang von den Behörden festgehalten worden, bevor er vor dem Senat sprechen konnte.

Andere derartige Verbindungen bestünden mit dem Iran, Venezuela und vor allem Russland – man wisse von "Deals", aber niemand könne es beweisen. Wirtschaftliche Sanktionen gegen solche Regime, so meint die Juristin Harth, können nicht die Antwort sein, meist werde nur die Zivilgesellschaft geschädigt.

PRNTT-Gründer Marco Panella habe das einen "Krieg gegen die Armen" genannt. Damit sei gemeint, dass unterdrückende Regime scheinbar endlose finanzielle Mittel hätten, während für Minderheiten, Oppositionen und NGOs nicht viel übrigbliebe und sie darum kämpfen müssten. Zum Beispiel hätten unterdrückte ethnische und religiöse Minderheiten in Asien kaum Aufmerksamkeit bekommen, beispielsweise die Uiguren. Die meisten Mittel seien fast immer nach Tibet geflossen. Dies ändere sich nun zunehmend. Organisationen wie die PRNTT und die UNPO glauben, dass gemeinsame Anliegen und Lösungsansätze zielführender sind als einzelne Kämpfe. Man müsse zurück zur Wurzel des Problems gehen, das sei der Ansatz, denn dann würde sich auch das Muster ändern.

"Die internationalen Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, gehören erneuert, verbessert. Sie sind erodiert", sagt Harth. Mittel dazu seien zum Beispiel Maßnahmen wie der "Magnitsky Act". Dieser betraf den Fall eines russischen Steuerprüfers, der einem riesigen Korruptionsskandal russischer Firmen auf der Spur war und 2009 in Moskau inhaftiert wurde. Schwere Gesundheitsschäden blieben unbehandelt, und der Gefangene wurde schließlich zu Tode geprügelt. Unter der US Präsidentschaft von Obama gab es massive Sanktionen gegen die Verantwortlichen, die in den Skandal involviert waren.

Haftbedingungen und Gefängnisfolter

Der Fall von Stefano Cucchi wiederum sei nur ein Beispiel von vielen Inhaftierten in Italien. Der damals 31-Jährige sei 2009 wegen Drogenhandels festgenommen worden. Nach einer Woche im Gefängnis sei er gestorben, laut Harth sei er zu Tode geprügelt worden. Heute sei Folter ein Straftatbestand in Italien. Das bedeute aber längst nicht, dass damit internationale Standards erreicht wären, sagt die Aktivistin.

Haft bedeute oft permanente Isolation, Familienmitglieder wären bei Besuchen durch dicke Glasscheiben von den Inhaftierten getrennt, es seien keine privaten Unterhaltungen erlaubt. Manche Häftlinge, die zu 20 Jahren oder mehr verurteilt werden, würden um Sterbehilfe bitten, sagt Harth. Andere wären nach Jahren komplett paralysiert und könnten nicht mehr sprechen. Auch sie hätten keine Chance auf eine bessere Situation – obwohl selbst in der Verfassung stehe, dass eine Haftstrafe eine "Weitererziehung" und Maßnahme der Reintegration sein sollte.

Harth will dies vor den Menschenrechtsauschuss der Uno bringen und wahrscheinlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

"Radio Radicale" – Unzensuriertes mit Kultfaktor

Ein weiteres Projekt ist Radio Radicale. Bis jetzt gibt es den Sender nur in italienischer Sprache, er soll jedoch bald auch in anderen Sprachen zur Verfügung stehen. Er startete als eine Art Piratensender. "Man ist ins Parlament geschlichen, hat das Signal aus dem Plenarraum angezapft und Parlamentssitzungen übertragen. Zum ersten Mal konnte die Bevölkerung hören, was Parlamentarier tatsächlich reden, statt eine Zusammenfassung oder Analyse eines Journalisten im Fernsehen zu bekommen. Es ist der Sender, der am meisten von der politischen Elite in Italien gehört wird, sogar von der Elite im Vatikan."

"Stampa e Regime" (übersetzt: Presse und Regierung) ist ein Morgenprogramm, das im Land Kultstatus erreicht hat und täglich läuft. Das Radio ist online zu streamen und als App erhältlich. Kongresssitzungen werden übertragen, ebenso wie Analysen und Debatten der Zivilgesellschaft und anderer Organisationen. Das Ziel ist es, so viel unzensurierte Information wie möglich zu den Bürgern zu bringen. Ein Anliegen, das Wurzeln schlagen dürfte. (Isabella Dussmann, 11.4.2018)