Feministinnen kämpfen seit mehr als hundert Jahren für das Recht auf Selbstbestimmung. In welchem Verhältnis diese Forderung zum Kopftuch steht, darüber wird seit Jahren rege diskutiert bis heftig gestritten: Ist auch das islamische Kopftuch Teil dieses Selbstbestimmungsrechts, oder stellt man sich damit gegen die Gleichberechtigung von Frauen? Anlass für neuerliche Diskussionen über das Kopftuch gibt das geplante Gesetz zu einem Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen.

Die deutsche Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş war 2006 bis 2009 Mitglied der Islamkonferenz und forderte schon damals ein Kopftuchverbot in Grundschulen und Kindertagesstätten. Die Pädagogin und Islamwissenschafterin Kevser Muratovic glaubt hingegen, dass ein Verbot den betroffenen Mädchen nicht helfen würde. Das sind die Argumente der beiden:

Seyran Ateş

Foto: Imago/Reiner Zensen

"Kinder haben in diesem Alter kein Bewusstsein dafür, warum eine bestimmte Religion bestimmte Kleidervorschriften vorsieht", sagt Seyran Ateş. Mädchen würden sich so schon früh in die brave Mädchenrolle begeben, würden sich weniger bewegen, damit ihr Kopftuch nicht verrutscht. Die Mädchen würden sich im Verhältnis zum anderen Geschlecht auch anders verhalten, sich sogar als minderwertig wahrnehmen, weil sie nicht offen sein dürfen in ihrer Kleidung, ist Ateş überzeugt. "Die Kinder bekommen ein Körpergefühl, das verschlossen ist. Deshalb ist das Verbot richtig." Wenn die Mädchen eine bestimmte Reife erlangt haben, die man mit der Religionsmündigkeit verbinden könnte, könnten sie sich noch immer entscheiden; bis dahin sollten sie aber "den Körper frei gespürt haben, und wie es ohne Kopftuch ist".

Das Argument gegen Verbote – etwa dass Mädchen vielleicht einmal Lust hätten, mit einem Kopftuch in die Schule zu gehen – kann Ateş nicht nachvollziehen. "In ihrer eigenen Kultur würden Atheistinnen oder Christinnen gegen alles kämpfen, was Mädchen in ihrer Freiheit beschränkt. Aber bei den Musliminnen machen sie Abstriche und meinen, dass das Toleranz wäre, wenn man gegen ein Verbot wäre."

Eine nichtreligiöse Parallele ist etwa die Debatte über ein Hotpants-Verbot in einer Schule in Baden-Württemberg, die auch in Österreich Diskussionen darüber auslöste, welche Kleidung in Schulen angemessen sei. Die Direktorin wollte "aufreizende Kleidung" wie bauchfreie Shirts und Hotpants an ihrer Werkrealschule nicht mehr dulden. "Ob es ein auffälliger Lippenstift, Hotpants oder ein Kopftuch ist: Am Ende ist es immer eine Sexualisierung", sagt Ateş. Hinter dem Kopftuch stehe einzig, dass der Mann sexuelle Gelüste hat, wenn er die Haare einer Frau sieht. Der Zweck sei also, dass man sie nicht sexuell reizt. "Wenn man das Kopftuch schon bei Kindergartenkindern und in der Grundschule hat, bedeutet das zu akzeptieren, dass Kinder schon in dem Alter sexualisiert werden."

Die Kopftuchfrage und der Feminismus

"Wir müssen uns auf die Frauenbewegung in Europa rückbesinnen", meint Ateş. Die Frauen hätten vieles geschafft. Jetzt gebe es aber doppelte Maßstäbe: Während Feministinnen in ihrer eigenen Community für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung kämpfen, würden sie archaische Praktiken und Sexismus in der muslimischen Kultur ausblenden. "Feministinnen müssen sich Gedanken machen, wo sie vor hundert Jahren politisch gestanden wären – und wo sie heute stehen. Sie unterstützen die politischen Gegner von damals."

In der gesamten islamischen Welt – von Marokko bis Indonesien – werde seit Jahrzehnten die Debatte "Kopftuch ja oder nein" geführt, sagt Ateş, "auch europäische Frauen platzieren sich entweder auf die eine oder andere Seite, so platt und einfach ist das". In Europa verbreite sich das Kopftuch immer weiter, und "deutsche wie auch österreichische Feministinnen haben Angst, als rassistisch und fremdenfeindlich zu gelten und lassen sich genau an dieser Stelle packen".

Kevser Muratovic

Foto: : Hibat Khelifi

Kevser Muratovic bezweifelt die Motive der Politik, dass es bei einem Verbot um das Kindeswohl und Gleichberechtigung gehe. Das es letztlich nicht darum gehe, zeige eine österreichische Studie, die die Präsenz frauenpolitischer Themen untersucht hat. Kopftuchthemen rangieren in den Medien laut dieser Studie weit vor Themen wie Sexismus, Gewalt gegen Frauen oder Frauen am Arbeitsplatz. Das Kopftuch werde auch vor allem mit Themen wie Integration, Sicherheit und Werte und nicht mit Frauenrechten in Zusammenhang gebracht. Für Muratovic sind diese Diskussionen "Scheindebatten", auch der fehlenden Daten wegen. "Um wie viele Kindergartenkinder oder Volksschülerinnen geht es überhaupt?"

Dass Eltern ihre Töchter in diesem Alter zwingen, ein Kopftuch zu tragen, sei selten. "Wir sollten auf Basis von Ausnahmen keine Gesetze einführen, die für die Allgemeinheit gelten", sagt Muratovic. Fest stehe, dass es keine Interpretation des Islams gebe, wonach Mädchen in diesem Alter schon ein Kopftuch tragen müssten. Falls es doch vorkomme, müsse man sich fragen, warum die Mädchen das tun, "da wäre mehr Tiefe gefragt". Man müsste mit den Eltern in Kontakt treten und mediativ eingreifen.

"Wie ist einem Mädchen durch ein Verbot geholfen, wenn es tatsächlich Eltern hat, die es zu einem Kopftuch zwingen?", fragt Muratovic. Stattdessen müsse man fragen, was Schule leisten müsse. Auch andere kritische Themen wie der Umgang mit sozialen Medien könnten nicht mit pauschalen Verboten aus der Welt geschafft werden. Toleranz stelle eine Basistugend für ein gewaltfreies Zusammenleben dar und müsse Teil unserer Bildung sein. Muratovic: "Wir können nicht die nordwesteuropäischen Heiligkeiten und Selbstverständlichkeiten nehmen und sie über alles drüberlegen." Zwar müsse es einen Kern aus Werten geben, der uns zusammenhält – aber dazu gehöre das Kopftuch nicht, "es stellt diese Werte nicht infrage, wir dürfen es auch nicht dahingehend politisieren".

Auch spreche gegen ein Verbot, dass manche der Mädchen Kopftücher aus einer kindlichen Lust an Nachahmung aufsetzen wollen. Sie würden etwa ihre Mutter sehen, die ein Kopftuch trägt und fänden es interessant. "Wenn ich das Kopftuch aufsetzte, will meine achtjährige Tochter das manchmal auch, genauso wie sie auch manchmal meinen Nagellack ausprobieren will – jetzt stellen Sie sich mal eine Mutter vor, die ihrem Kind sagen muss: Nein, du darfst das nicht, so darfst du nicht in die Schule gehen. Was vermittelt einem Kind die Kriminalisierung eines ganz normalen Kleidungsstückes?"

Die Kopftuchfrage und der Feminismus

Kevser Muratovic glaubt, dass es innerhalb der feministischen Debatten der letzten Jahre durchaus Annäherungen und differenziertere Herangehensweisen gibt. "Durch diese Diskussionen fordern wir den 'weißen Feminismus' heraus, die eigenen Rassismen zu hinterfragen und das eigene Ideal ernst zu nehmen und nicht auf der Ebene des Feminismus Chauvinismus zu betreiben und zu behaupten, 'nur wir haben den echten Feminismus'." (Beate Hausbichler, 8.4.2018)