Eine kindliche Jeanne (Lucile Gauthier) bringt den Mythos wieder zum Schwingen: Bruno Dumonts Filmmusical "Jeannette".

Foto: Stadtkino

Wien – In Paris steht unweit des Louvre auf der Place des Pyramides eine goldene Statue. Sie verkörpert die heilige Johanna von Orléans, in der Landessprache heißt sie Jeanne d'Arc. Eine Figur aus dem 15. Jahrhundert, an der sich die Grande Nation seit ihrem patriotischen Märtyrertod abarbeitet: Wie passt dieser christliche Nationalismus, den das Mädchen aus Lothringen vertrat, in die Gegenwart? Heute ist es vor allem der Front National, der Jeanne für sich reklamiert. Dagegen steht eine lange Tradition kultureller Aneignungen. Für Filmemacher in Frankreich ist es geradezu obligat, dass sie einmal in ihrem Leben eine Version der Geschichte erzählen. Die markantesten stammen von dem strengen Robert Bresson und von dem Spektakelmeister Luc Besson.

"Jeannette" – Trailer
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Nun hat sich auch Bruno Dumont des Themas angenommen. Seine Heimat ist der französische Norden, keine Gegend, mit der man groß renommieren könnte. Seit L'humanité (1999) zählt er zu den bedeutenden Namen im französischen Kino. Er hat einen ausgeprägten Sinn für das Groteske, wie er zuletzt mit der großartigen TV-Serie P'tit Quinquin zeigte. Was kann jemand, von dem man eher eine künstlerische Antwort auf den kommerziellen Erfolg der Sch'tis erwarten würde, mit der kleinen Jeanne anfangen?

Kein Heil ist übrig geblieben

Dumonts Film Jeannette – L'Enfance de Jeanne d'Arc widmet sich tatsächlich in erster Linie den Kindertagen der Heiligen. Seine Vorlage stammt von Charles Péguy, einem der wichtigsten französischen Intellektuellen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Péguy wird heute auch eher von der französischen Rechten vereinnahmt, ist aber zugleich so etwas wie ein Geheimtipp unter den Cineasten. Jean-Luc Godard zählt zu seinen prominentesten Lesern, aber selbst bei ihm muss man starke Zweifel anmelden, ob er sich Das Mysterium der Erbarmung angetan hat, von dem Bruno Dumont nun ausgeht. Ein Drama im mittelalterlichen Stil, in dem Jeanne vor allem mit einer Ordensschwester lange Gespräche über die Heilsgeschichte führt.

Dumont ist nicht gläubig. Ihn interessiert an der Sache nicht die Heiligengeschichte, sondern ihm ist offensichtlich daran gelegen, einen nationalen Mythos gehörig gegen den Strich zu bürsten. Er will Jeanne aus den Händen derer herauswinden, die sie für politische Zwecke vereinnahmen. Man könnte auch sagen: Er will den Mythos in einen Zustand der Unschuld zurückversetzen. Jeanne ist bei ihm ein Backfisch im Jahr 1425, ein Mädchen im groben Kleid, das mit den Schafen in der Landschaft herumstreift, barfuß und immer ein Lied auf den Lippen. Sie singt vom Krieg, die Engländer sind im Land, Frankreich steht de facto unter Besetzung, nicht wenige Fraktionen kollaborieren. Ein guter Herrscher ist nicht in Sicht. Jeanne hat aber grundlegendere Probleme. Sie hat das Gefühl, dass vom Opfertod Jesu, der immerhin schon 1400 Jahre zurückliegt, kein Heil übrig geblieben ist: "nichts niemals", "jamais rien".

Ohne den Habit

Dieser Tief- und Klagepunkt ruft natürlich förmlich nach einem überraschenden Umschwung, und dieser kommt auch in Form zweier Erscheinungen: zuerst die Ordensschwester Gervaise und dann die Heiligen, die Jeanne auf den Weg ihrer politischen Mission schicken. Was Dumont als Singspiel beginnen ließ, wird zu einem Metal-Musical, bei dem die Schwester ihre Kopfbedeckung abnimmt, und dann wird ordentlich geheadbangt (die Musik stammt von dem Clubstar Igorrr). Das könnte man als ein ironisches Manöver sehen. Aber Dumont erreicht damit sein Ziel: Seine Jeanne wirkt wie neu geboren, und nach dem Film Jeannette könnte man auch den Rest ihrer Geschichte wieder ganz von vorn erzählen. Der ganze Interpretationswust ist wie – von wilden Riffs – weggeblasen. Ein Wunder, ganz ohne Firlefanz. (Bert Rebhandl, 6.4.2018)