Szene aus dem Film "Loveless" des russischen Regisseurs Andrej Swjaginzew. Die Protagonisten des Films sind Eltern, die ihren Sohn eigentlich nicht lieben und sich im Zuge der Scheidung streiten, wer ihn zu sich nehmen muss. Als er spurlos verschwindet, ist die Not groß.

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Familien- und Psychotherapeutin Irmela Wiemann.

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STANDARD: Vor gut zwei Jahren löste die israelische Soziologin Orna Donath mit ihrer Studie "Regretting motherhood" (Mutterschaft bereuen) eine große Debatte darüber aus, ob eine Frau sagen darf, dass sie es bereut, Mutter geworden zu sein. Dürfen Eltern über solche Gefühle mit ihren Kindern sprechen?

Wiemann: Ja. In manchen Fällen ist es sogar sinnvoll, dies zu tun. Denn für die Kinder ist das Gefühl, von Mutter oder Vater abgelehnt zu werden, immer eine extreme Stresserfahrung. Oft sind sie sich auch nicht sicher, ob ihr Gefühl wirklich stimmt, reden es sich wieder aus, schieben es weg. Wächst ein Kind mit solchen emotionalen Wechselbädern auf, bekommt es Schwierigkeiten, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln. Wenn Eltern mit ihren Kindern darüber sprechen, erfahren sie wenigstens, dass ihre Wahrnehmung stimmt. Ein solches Gespräch kann deshalb auch eine Entlastung sein.

STANDARD: Doch wie bringe ich meinem Kind bei, dass ich es nicht so liebe, wie es dies verdient?

Wiemann: Das ist tatsächlich sehr schwer. Ich kenne Beispiele, da waren Mütter oder Väter extrem destruktiv. Sie sagten etwa "Du hast mir mein Leben verdorben" oder "Wegen dir läuft bei mir alles schief". Das hat natürlich langfristige Folgen.

STANDARD: Welche zum Beispiel?

Wiemann: Die Kinder entwickeln oftmals bis ins Erwachsenenalter hinein Ängste, sich zu binden – und/oder sie suchen sich Beziehungen aus, in denen sie erneut abgelehnt werden. Viele verinnerlichen die Ablehnung der Eltern auch und richten sie dann gegen sich selbst. Die Folge sind selbstverletzendes Verhalten und ein hohes Suizidrisiko. Dazu kommt die ständige Angst vor Zurückweisung – für ein Kind keine guten Startbedingungen.

STANDARD: Wie kann ich als Mutter oder Vater konstruktiv mit meinem Kinder über das Thema sprechen?

Wiemann: Wichtig ist, dass ich meine Gefühle erkenne und sie mir verzeihe. Erst dann kann ich meinem Kind deutlich machen, dass diese negativen Gefühle nichts mit seiner Person zu tun haben, sondern allein mit mir und meiner persönlichen Geschichte. Eine meiner Klientinnen hatte ihr Kind beispielsweise im Zweiten Weltkrieg bekommen. Sie fühlte sich damals unter Hochstress. Später erzählte sie ihrem Sohn, wie erschrocken sie war, als sie merkte, dass er in ihrem Bauch wuchs – betonte dann aber auch, wie glücklich sie heute ist, ihn zu haben. Schwieriger ist es natürlich, wenn sich dieses Glücksgefühl nach der Geburt nicht einstellt.

STANDARD: Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Wiemann: In einem meiner Kurse lernte ich eine Mutter kennen, sie hatte drei Kinder. Zu den ersten beiden hatte sie eine gute und liebevolle Beziehung, das Letztgeborene blieb ihr jedoch nicht nur fremd, sie mochte es tatsächlich nicht. Je mehr der Mutter das klar wurde, desto schuldiger fühlte sie sich. Sie hasste sich dafür.

STANDARD: Wie ging es weiter?

Wiemann: Sie lernte, sich ihre negativen Gefühle zu erlauben. Das nahm ihr den Druck und half ihr, wieder Seiten an ihrem Kind zu entdecken, die sie mochte. Ihrer Tochter erklärte sie dann: "Du hast meine gemischten Gefühle dir gegenüber längst gemerkt." Und gab zu: "In mir gibt es einen Teil, der nicht ganz so liebevoll zu dir sein kann wie zu deinen Geschwistern." Außerdem betonte sie, dass diese Gefühle nichts mit ihr, also der Tochter, zu tun haben, sondern mit ihr selbst, dass sie darüber selbst unglücklich ist und dass sie beide lernen müssten, damit umzugehen. Ich rate Menschen, sich in so einer Situation fachliche Hilfe zu holen.

STANDARD: Woher kommt es, dass manche Eltern ihr Kind nicht annehmen können, obwohl sie sich das eigentlich wünschen?

Wiemann: Das ist unterschiedlich. Hatten Mutter und Vater eine sichere und behütete Kindheit, fällt es ihnen leichter, dieses Gefühl auch an ihre Kinder weiterzugeben. Haben sie hingegen selbst nicht genug Grundsicherheit erfahren, fällt es ihnen schwerer, diese ihren Kindern entgegenzubringen. Mitunter stecken auch Traumata der Kindheit dahinter. Auch eine ambivalente Beziehung zum Partner kann sich auf das Kind übertragen. Dazu kommen die Umstände, unter denen das Kind gezeugt wurde. Bei der Zeugung durch eine Vergewaltigung sind solche ablehnenden Reaktionen naheliegend.

STANDARD: Susanna Tamaro hatte eine sehr destruktive Mutter. Heute ist sie eine berühmte Schriftstellerin. Kann ein Kind an so einer Art der "Auseinandersetzung" auch wachsen?

Wiemann: Wenn Kinder einordnen können, was da geschieht, dann können sie durch einen solchen Konflikt auch wachsen. Aber das ist ein langer und schmerzlicher Prozess. Wichtig ist, dass das Kind die Ablehnung nicht auf sich bezieht, sondern begreift, dass die Eltern mit sich selbst in Schwierigkeiten stecken – vielleicht psychisch erkrankt sind, wie es die Mutter von Susanna Tamaro war. Doch dürfen wir uns hier nichts vormachen: Egal wie sensibel Eltern ihrem Kind solche Gefühle nahebringen, für das Kind bleibt die Erfahrung, dass es nicht bedingungslos geliebt wird, bitter. Letztendlich kommt es jedoch auf die Gesamtsituation an.

STANDARD: Was meinen Sie mit "Gesamtsituation"?

Wiemann: Es gibt Kinder, die kommen stabiler auf die Welt als andere, sind von vornherein optimistischer, psychisch widerstandsfähiger. Andere sind anfälliger für seelische Verletzungen. Dazu kommt das soziale Umfeld, in dem sie aufwachsen. Auch eine vertrauensvolle Beziehung zu den Großeltern, zu einem Nachbarn sowie gute Freunde können Kinder stärken. Außerdem ist es selten so, dass Vater und Mutter das Kind gleichermaßen ablehnen – meist kann ein Elternteil Defizite des anderen ausgleichen, das Kind schützen und ihm Zusammenhänge erklären.

STANDARD: Gibt es einen richtigen Zeitpunkt, um mit dem Kind über solche Gefühle zu sprechen?

Wiemann: Nein. Wichtig ist, was ich eingangs sagte: Dass die Eltern sich ihre Gefühle eingestehen und erlauben. Und sie sollten erkennen, dass ihr Kind nichts dafür kann. Dann können sie auch angemessene Worte finden. (Stella Hombach, 7.4.2018)