Der Wurm in uns: Bei der Beobachtung der Labortiere gewinnen die Forscher wichtige Erkenntnisse über den menschlichen Organismus.

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Caenorhabditis elegans heißt eines der liebsten Labortiere der Genetiker. Der klangvolle griechisch-lateinische Name kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Träger ein Winzling ist. Einen Millimeter lang ist der erwachsene C. elegans, und trotzdem gilt er als ein ganz wichtiger Partner für die Forschung. Der Wurm wurde zum Modellorganismus für die Molekularbiologie, weil er – je nachdem, ob Zwitter oder Männchen – immer die gleiche Anzahl an Zellkernen hat. Am elegant und exakt strukturierten Wurm kann der Entwicklungsablauf von Zellen gut nachverfolgt werden.

Am Zentrum für Systembiologie Dresden (CSBD) steht das Biologenhaustier besonders genau unter Beobachtung. Hier ist die Systembiologie daheim, eine interdisziplinäre Forschungsdisziplin aus Biologie, Informatik, Mathematik und Physik, die versucht, komplexe biologische Systeme zu verstehen. Denn auch hinter der Organisation des menschlichen Körpers steckt System: Moleküle organisieren sich zu Zellen, Zellen vernetzen sich zu Geweben, Gewebe wiederum bilden Organe. Aber wie wird aus Zehntausenden von Zellen ein klar strukturiertes Gewebe mit definierter Größe und Funktion? Wie finden sich die Zellen, wie stimmen sie sich ab? Die Systembiologie geht Fragen wie diesen auf den Grund.

"Forschungsexpedition zum Kern des Lebens", nennt es Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Florian Jug, in Kärnten aufgewachsener Informatiker, arbeitet am Dresdner Forschungszentrum. Sein Aufgabengebiet ist die Bioimage-Informatik. Wo sieht er seinen Beitrag auf dieser "Expedition zum Kern des Lebens"? Der Wissenschafter versucht es mit einem Vergleich: "Wäre die Expedition zum Kern des Lebens eine Expedition zum Mount Everest, dann würde mein Labor die nötige Ausrüstung entwickeln, um diese Tour zu ermöglichen. Man muss sich das so vorstellen: Biologen sind die Bergsteiger, aber egal wie gut ein Bergsteiger ist, ohne die passenden Steigeisen und Sicherungsseile ist der Aufstieg nicht möglich."

Dem Leben auf der Spur

Der Forscher beschreibt seine Arbeit mit C. elegans, Fruchtfliege und Co: "Wir können heute mithilfe spezieller Mikroskope Videos anfertigen, die zeigen, wie eine befruchtete Eizelle zu einem Embryo und dann zu einem voll ausgebildeten Lebewesen wird." In diesen Videos könne man jede einzelne Zelle erkennen und mithilfe von biologischen und genetischen Experimenten die Zellprozesse gezielt sichtbar machen und modifizieren.

Beobachtet wird mit intelligenten Mikroskopen, die den nächsten Schritt des Untersuchungsobjekts voraussehen, ihren Blickwinkel entsprechend einrichten und sich die Abläufe für die nächste Zellprobe merken können. Automatisierte Software hilft bei der Bildanalyse.

"Natürlich ist das ein sehr komplexes Unterfangen mit vielen Problemen, die gelöst werden müssen", räumt Florian Jug ein. Seine Forschungsgruppe widmet sich einem fundamentalen Problem, "nämlich der Bewältigung der Datenmengen in Form von 3D-Videos". Einige der Mikroskope können mehrere Gigabyte Bilddaten pro Sekunde produzieren. Um dieser Datenflut Herr zu werden, entwickelt man entsprechende Algorithmen zur automatisierten Bildanalyse. Die Zellen und Prozesse in all den Videos einfach nur zu betrachten oder gar manuell auszuwerten würde viele Jahre dauern, erklärt Jug.

Erkenntnisse über die Menschen

Warum schaut man in die Zellen von Fadenwürmern, studiert die Gewebeorganisation im wachsenden Flügel einer Fruchtfliege? Weil sich aus der Beobachtung der Labortiere wichtige Erkenntnisse über den menschlichen Organismus gewinnen lassen, sagt Jug: "Die fundamentalen Prozesse, die aus einer Eizelle eine Fruchtfliege oder einen Menschen machen, sind in vielerlei Hinsicht identisch." Jug verdeutlicht dies mit einem Beispiel aus dem Alltag: "Um ein Automobil zu reparieren, muss man zu allererst seine Teile verstehen und wie diese Teile ineinandergreifen, um zusammen alle Eigenschaften eines Autos zu erzeugen."

Auf den Erkenntnissen über fundamentale Zellprozesse kann dann die medizinische Forschung aufbauen. Die Vision lautet, die Gewebsbildung im menschlichen Organismus zu verstehen und damit auch, wann und wo Gendefekte den Entwicklungsprozess stören. Damit würde die Grundlage für künftige medizinische Interventionen geschaffen. (Jutta Berger, CURE, 19.4.2018)