Der Philosoph Michael Sandel ist am 12. April in Wien, um bei der Technologie- und Innovationskonferenz NextM über die ethischen Implikationen von Big Data und Künstlicher Intelligenz zu sprechen.

STANDARD: In Ihrem Buch "Was man für Geld nicht kaufen kann" kritisieren Sie, dass sich die Logik des Marktes auf viele Bereiche unseres Lebens ausbreitet. Sie kritisieren, dass Bildung, Gesundheit, Freundschaft oder menschliches Leben nicht wie andere Güter behandelt werden sollten. Trifft das auch auf Daten zu?

Sandel: Ja, der Handel mit persönlichen Daten wirft dieselben moralischen Fragen auf, die ich in Bezug auf Bildung oder Gesundheit in meinem Buch diskutiere. Ich denke, dass wir eine öffentliche Debatte darüber brauchen, welche Methoden der Datenverwertung moralisch akzeptabel sind. Besonders jetzt, wo wir immer häufiger über den Missbrauch lesen, den Facebook und andere große Plattformen mit unseren Daten treiben.

STANDARD: Die meisten der Plattformen sind gratis, wir bezahlen mit unseren Daten. Den meisten Menschen ist das bewusst, trotzdem gehen sie das Geschäft ein. Treffen sie eine freie Entscheidung?

Sandel: Natürlich geben sie eine Art Einverständnis ab, wenn sie sich anmelden. Aber die Details darüber, wie viele Daten und zu welchem Zweck sie gesammelt werden, ist vielen nicht bewusst. Oft findet man die Details nur in sehr kleiner Schrift und in einer sehr technischen Sprache, die kein Mensch liest. Deshalb glaube ich nicht, dass diese Zustimmung eine informierte Entscheidung ist. Mehr und mehr Menschen fragen sich: Wie gratis sind diese Gratisdienste? Sie merken, dass diese unglaublichen Mengen von persönlichen Daten dafür verwendet werden, uns Dinge zu verkaufen oder uns von einer Partei zu überzeugen. Mit der DatenschutzGrundverordnung, die nächsten Monat in Kraft tritt, werden die Entscheidungen, die wir über unsere Daten treffen, etwas freier, als sie jetzt sind. Hier hat die EU bessere Arbeit geleistet als die Regierung in den Vereinigten Staaten.

STANDARD: Reicht das?

Sandel: Die Verordnung ist ein wichtiger erster Schritt. Es ist wichtig, dass ein "Opt-in", also eine ausdrückliche Zustimmung zur Datensammlung, zum Standard wird, anstatt uns nach einer Möglichkeit zum "Opt-out" suchen zu lassen. Wichtig ist auch, dass wir jederzeit einsehen können, welche Daten Anbieter über uns gespeichert haben. Wir sollen die Möglichkeit haben, diese Informationen jederzeit löschen zu können, damit sie uns nicht ein Leben lang verfolgen. Aber auch mit der neuen Verordnung bleibt es dabei, dass wenige Plattformen den Markt dominieren. Historisch gesehen hatten wir diese Situation schon einmal: Zur Zeit der Industrialisierung kontrollierten wenige Unternehmen gewisse Bereiche, etwa die Banken- oder die Stahlbranche. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Monopole schließlich aufgebrochen. Wir brauchen eine solche Reform auch im digitalen Zeitalter.

STANDARD: Soll die Regierung dann entscheiden, welche Anwendungen von Big Data gut und welche böse sind? Zum Beispiel durch Ethikräte, wie wir sie schon in anderen Bereichen haben?

Sandel: Ich bin dafür, dass Ethikräte die Anwendungen von Big Data und Künstlicher Intelligenz untersuchen. Sie sollten aber nicht das Recht haben, Vorschriften zu erlassen. Ihr primärer Nutzen könnte es sein, die technologische Seite zu betrachten und dazu größere ethische Fragen in den Raum zu stellen, welche Politiker und die Öffentlichkeit dann debattieren und entscheiden. Vor ein paar Jahren war ich selbst Mitglied in einem Ethikrat zum Thema Genetik. Wir konnten keine Entscheidungen treffen, sondern wollten dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit eine informiertere Debatte darüber führt, wie wir mit unseren Technologien umgehen.

STANDARD: Ist das Recht auf Privatsphäre unabtretbar?

Sandel: Wenn Sie damit die Kontrolle der Bedingungen meinen, unter denen Daten verwertet werden: Ja. Es wäre falsch zu denken, dass wir dieses Recht mit einem Klick veräußern können. Deshalb brauchen wir eine öffentliche Debatte darüber, inwieweit Unternehmen uns dazu auffordern dürfen, dieses Recht abzugeben.

STANDARD: Kann diese öffentliche Debatte auch online stattfinden?

Sandel: Ich glaube, dass wir beides brauchen. Wenn eine Diskussionsplattform sorgfältig strukturiert ist, die Fragestellungen gut sind und eine effektive Moderation gegeben ist, kann eine ethische Debatte schon online stattfinden. Auf BBC habe ich kürzlich eine Sendung namens The Global Philosopher gestartet, in der ich über 60 Bildschirme mit Menschen weltweit debattierte – etwa über Meinungsfreiheit oder Migration. Ich glaube aber nicht, dass Onlinediskussionen Versammlungen, wo Menschen von Angesicht zu Angesicht debattieren, ersetzen können. Es ist wichtig, dass sich Menschen an Orten treffen, wo sie einander in die Augen schauen können und den Menschen hinter den Argumenten spüren können.