Es sei nie einfach, darüber zu reden, sagt Megan Nobert. Vor allem, wenn es um Details geht. Doch wenn es anderen hilft, werde sie immer dazu bereit sein. Worum es geht, ist ein Vorfall, der ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Es war im August 2015, als sie für das UN-Kinderhilfswerk Unicef im Südsudan tätig war. Im Verlauf einer Nacht ging es, ohne Details zu nennen, um den Mitarbeiter eines von Unicef beauftragten Subunternehmens, ein Glas Rotwein, Drogen, die darin enthalten waren, und schließlich um die Erkenntnis der heute 31-jährigen Kanadierin: "Ich wurde vergewaltigt."

Nun, fast drei Jahre später, ist sexuelle Gewalt im humanitären Bereich ein Thema, das um die Welt geht. Grund dafür ist der vor etwa zwei Monaten aufgekommene Skandal um die Hilfsorganisation Oxfam. Im Kern geht es darum, dass Mitarbeiter 2011 im Zuge der Erdbebenhilfe auf Haiti Prostituierte engagiert hatten. Sex gegen Geld oder sonstige Leistungen ist laut Oxfam-Verhaltenskodex verboten, zudem ist Prostitution in Haiti illegal. Dies alles wurde aber nie zur Anzeige gebracht. Die involvierten Mitarbeiter verließen Oxfam, kamen dann aber bei anderen Hilfsorganisationen unter, die nicht vorgewarnt waren.

In Bentiu im Südsudan wurde Megan Nobert vergewaltigt.
Foto: AFP/TRISTAN MCCONNELL

Dies alles führte dazu, dass auch der humanitäre Sektor seinen sogenannten "MeToo-Moment" hatte: Bei Oxfam kam es zu Rücktritten, weitere Hilfsorganisationen berichteten über entsprechende Vorfälle in ihren Reihen, führende Köpfe in der Branche forderten einen grundlegenden Wandel.

Das begrüßt Megan Nobert. "Es ist gut, dass endlich darüber geredet wird", sagt sie zum STANDARD. Seit ihrer Vergewaltigung setzt sich die Juristin für die Opfer sexueller Gewalt im humanitären Bereich ein. Sie ging mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit und gründete die – mittlerweile wieder aufgelöste – NGO Report The Abuse, um das Schweigen über derlei Verbrechen in der Branche zu beenden.

"Das geht quer durch den Sektor"

"Viele Betroffene haben mich kontaktiert", sagt Nobert. Sexuelle Gewalt, Belästigung am Arbeitsplatz, Diskriminierung: "Das alles geht quer durch den Sektor." Was in diesen Fällen dann passiert ist? "Die meisten haben es gemeldet, aber es wurde nichts dagegen getan."

Das Problem, so Nobert, sei ja nicht, dass es keine entsprechenden Richtlinien gibt, sondern dass sie nicht umgesetzt werden. "Vielleicht müssen sie etwas adaptiert werden, aber das große Problem ist die Kultur in diesem Bereich. Die muss geändert werden."

Megan Nobert setzt sich seit Jahren für besseren Schutz im humanitären Sektor ein.
Foto: Privat

Eine Kultur des Schweigens, des Wegschauens, des Tolerierens. Megan Nobert kennt das aus eigener Erfahrung. Sie meldete ihre Vergewaltung bei Unicef, doch das UN-Kinderhilfswerk ist den Verträgen entsprechend nicht für das Verhalten des Personals der Subunternehmen zuständig, die es beauftragt. Während sie überlegte, sich offiziell an das Subunternehmen zu wenden, wies Unicef seine Partnerfirma an, den Vergewaltiger zu feuern – und nahm Nobert somit unbewusst die einzige realistische Möglichkeit, Gerechtigkeit einzufordern.

Gang zur Polizei keine Option

Denn der Südsudan ist, damals wie heute, ein schwacher Staat, Exekutive und Judikative funktionieren kaum. Den traumatisierten Frauen, um die sie sich damals kümmerte, riet sie immer ab, zur Polizei zu gehen, denn das würde wohl zu eine Retraumatisierung führen. Wieso sollte sie dann selbst diesen Weg wählen?

Das alles ist offenbar kein Einzelfall: Einem BBC-Bericht vom vergangenen Februar zufolge haben Mitarbeiter von Subunternehmen in Syrien Frauen ausgebeutet, unter anderem Sex für Essen eingefordert. Dabei gäbe es eine so einfache Gegenmaßnahme, sagt Nobert: "Die Verträge müssen so geändert werden, dass sich auch die Subunternehmen an die UN-Richtlinien halten müssen."

Veränderungen in UN-Organisationen schwierig

Im Rahmen ihrer Arbeit hatte die Kanadierin oft mit UN-Institutionen zu tun: "Es gab dort immer Leute, die von meinen Ideen begeistert waren, um gegen sexuelle Gewalt besser vorgehen zu können. Aber bei so einer großen Organisation ist Veränderung immer schwierig." Eine Ausnahme, betont Nobert, sei das UN-Welternährungsprogramm (WFP): "In den vergangenen Jahren hat es viele Veränderungen gegeben: weniger Ängste und Sorgen aufseiten der Frauen, eine ganz andere, offene Arbeitsatmosphäre."

Mitte Februar musste sich Oxfam-Chef Mark Goldring im britischen Parlament Fragen von Abgeordneten stellen. Dabei entschuldigte er sich für die Vorkommnisse in Haiti.
Guardian News

Auf solch eine Veränderung für die ganze Branche hofft Megan Nobert nun im Zuge des Oxfam-Skandals. "Viele Organisationen arbeiten schon seit längerem daran, manche schneller, manche langsamer. Das könnte nun der Weckruf für alle sein, sich zu beeilen." Die Vorzeichen stünden nicht schlecht, Spender forderten Gespräche und Evaluierungen, viele kämen an einen Tisch, um das zu besprechen, so Nobert. Doch sie weiß: "Das alles braucht Zeit und Geld."

Offener Brief von über 1000 Frauen

Anfang März haben über 1000 Frauen aus dem humanitären Sektor aus etwa 80 Ländern in einem offenen Brief Reformen in der Branche bezüglich sexueller Gewalt gefordert. Für Megan Nobert ist aber klar: So sehr humanitäre Helferinnen auch von sexueller Gewalt betroffen sind – diejenigen, die diese humanitäre Hilfe in Anspruch nehmen müssen, sind es noch viel mehr. "Wir haben eine Stimme, die gehört wird – die verletzlichen Frauen in den Krisengebieten haben sie nicht." In diesem Zusammenhang hält sie es denn auch für einen falschen Weg, den Hilfsorganisationen die Spenden zu entziehen. Denn am meisten hätten dann die von den humanitären Krisen Betroffenen zu leiden.

Derzeit tritt Nobert eine neue Arbeit an. Bei welcher Organisation, darf sie noch nicht verraten, aber auch dort kann sie ihren Kampf gegen sexuelle Gewalt fortsetzen. "Wäre das nicht möglich, würde ich es in der Freizeit machen, denn das alles gehört nun unwiderruflich zu meinem Leben." (Kim Son Hoang, 17.4.2018)