Bild nicht mehr verfügbar.

Präsident Tayyip Erdogan (rechts) sah sich während der Verhandlungen zum EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen in einer Situation, wo er dachte, alles bekommen zu können – auch weil Angela Merkel EU-Kreisen zufolge bereit war, Zugeständnisse zu machen.

Foto: Reuters/Handout

In EU-Diplomatenkreisen ist die Ungehaltenheit zu spüren. "Zuerst macht Merkel dieses Türkei-Abkommen, und dann will Deutschland nicht bezahlen", sagen manche. Die nächste Tranche für die Türkei – drei Milliarden Euro der EU-Hilfen für Flüchtlinge in der Türkei (Frit) – sind fällig, doch einige EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland) wollen am liebsten alles aus dem EU-Budget berappen lassen.

In EU-Gremien gibt es aber Widerstand dagegen. Man argumentiert, dass es gar nicht die EU gewesen sei, die den Türkei-Deal 2016 forciert habe – sondern dass dieser die deutsche Handschrift trägt. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat beim Europäischen Rat Ende März zumindest eingeräumt, dass die EU-Staaten die Hälfte bezahlen könnten.

Sechs Milliarden Euro

"Das ist aber immer noch eine ziemliche Chuzpe, wenn man weiß, dass sie die sechs Milliarden kreativ erfunden hat", sagt ein Diplomat zum STANDARD. Im Herbst 2015 habe es nämlich einen anderen Vorschlag gegeben, der von EU-Kommissar Frans Timmermans und Ratspräsident Donald Tusk ausgearbeitet worden sei. Dieser habe vorgesehen, dass die Türkei (unter Auflagen) eine Schengen-Visabefreiung bekommen sollte, man "freundliche Nasenlöcher bei der Eröffnung einiger EU-Kapitel" machen und eine Vertiefung der Zollunion anstreben würde.

Die bestehenden Vorbeitrittshilfen sollten demnach umgeschichtet werden. Der entscheidende Unterschied zu dem Merkel-Deal sei, dass das Timmermans-Tusk-Abkommen weniger Geld für die Türkei vorgesehen hätte. Auch in der Frage der Visaliberalisierung und bei der Eröffnung neuer Beitrittskapitel sei der Vorschlag vorsichtiger formuliert gewesen als jener von Merkel.

100 Prozent zudrehen

Trotzdem soll der Deal, der mit dem damaligen Premierminister Ahmet Davutoğlu ausgehandelt worden war, ziemlich fix gewesen sein. Doch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel störte – laut den Aussagen aus dem EU-Umfeld, die dem Standard vorliegen –, dass die Grenze der Türkei mit dem Timmermans-Tusk-Abkommen für Flüchtlinge nicht völlig geschlossen werden konnte. Die deutsche Regierung wollte, dass "gar niemand mehr hereinkommen kann", so ein Beamter aus dem EU-Umfeld. Deshalb wurde der Passus mit der verpflichtenden Rückführung in die Türkei eingebracht.

"Der Timmermans-Tusk-Ansatz hatte aus Berliner Sicht den Nachteil, dass er die Syrer nicht umfasst hätte. Und Merkel wollte 100 Prozent zudrehen, während sie international die humanitäre Heldin spielte", erzählt ein Insider aus dieser Zeit. Sie wollte demnach, dass auch die Syrer wieder in die Türkei zurückgebracht werden konnten – die andernfalls in Deutschland Asyl bekommen hätten. Das Kalkül der deutschen Regierung soll folgendermaßen gewesen sein: Syrer, die damit rechnen mussten, von Griechenland wieder zurück in die Türkei geschickt zu werden, würden die gefährliche Fahrt über das Meer gar nicht mehr auf sich nehmen.

Spätestens seit Weihnachten 2015

Zudem habe Deutschland mit dem Deal verhindern wollen, dass die Syrer in Griechenland Asylanträge stellen – sie sollten bereits davor wieder zurückgeschickt werden. "Merkel hat also bewusst in Kauf genommen oder sogar darauf gehofft, dass das griechische Asylsystem nicht wirklich funktioniert und Leute vor Ende ihres Verfahrens in die Türkei zurückgeführt werden", so ein Beobachter der damaligen Verhandlungen zum STANDARD.

Das Pikante ist: EU-Vertreter, die mit der Türkei verhandelten, wussten zunächst nichts von den parallelen Verhandlungen der deutschen Regierung – diese wurden nur durch Zufall bekannt. "Die Deutschen waren spätestens seit Weihnachten 2015 sehr regelmäßig in der Türkei, wahrscheinlich schon etwas früher, um den Deal auszuverhandeln", erzählt ein Diplomat.

Ein gemeinsamer Erfolg

Der STANDARD hat die deutsche Bundesregierung in dieser Causa um eine Stellungnahme gebeten und gefragt, welche Schritte die Regierung – jenseits der EU-Gremien – unternommen hat, um das Abkommen vorzubereiten, ob Reisen von Regierungsvertretern im Winter 2015 mit jenen der EU koordiniert waren oder ob es Parallelverhandlungen gab. Natürlich wurde an den Pressedienst auch die Frage gerichtet, ob die Idee, drei plus drei Milliarden Euro an die Türkei zu zahlen, von Berlin unterstützt wurde.

Der Pressedienst der deutschen Regierung antwortete auf alle diese Fragen folgendermaßen: "Die EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 ist ein gemeinsamer Erfolg. Durch dieses Abkommen ist es gelungen, das tödliche Geschäftsmodell der Schleuser in der Ägäis wirkungsvoll zu bekämpfen: Die Zahl der illegalen Einreisen von der Türkei nach Griechenland ist erheblich zurückgegangen. Das gilt auch für die Todesfälle bei der gefährlichen Überfahrt. Die Bundesregierung befürwortet die Aufstockung der EU-Türkei-Flüchtlingsfazilität um weitere drei Milliarden Euro. Darüber hinaus bitten wir um Verständnis, dass wir aus internen Beratungen nicht berichten." Konkrete Antworten gab es also nicht.

"Nichts hinzuzufügen"

Auf weiteres Nachfragen schrieb der Pressedienst: "Die Bundesregierung stimmt ihre Türkei-Politik grundsätzlich eng mit der EU-Kommission und anderen europäischen Partnern ab. Darüber hinaus haben wir unserer bisherigen Antwort nichts hinzuzufügen."

Klar ist: Heute ist Merkel in einer ganz anderen Situation als im Winter 2015/2016. Damals war von "Bunkerstimmung" in Berlin die Rede. Zeitzeugen berichten, dass sie sich mit dem damaligen Chef des Bundeskanzleramts, Peter Altmaier, ziemlich zurückgezogen hatte. Andere sprechen von einer "politischen Nahtoderfahrung" der Kanzlerin. Die Verzweiflung über die nicht abreißenden Flüchtlingsströme soll jedenfalls so groß gewesen sein, dass man versuchte, um jeden Preis einen Deal zu machen, "koste es, was es wolle", wie ein Insider sagt. Aber schon damals gab es Kritik an dieser Haltung, nicht nur weil sich die deutsche Bundesregierung auf so viel Geld einließ und den Timmerans-Tusk-Plan unterlief, sondern auch weil sie damit "Erwartungshaltungen in der Türkei" schuf.

Erwartungshaltungen geschaffen

Präsident Tayyip Erdoğan sah sich in einer Situation, wo er dachte, alles bekommen zu können. "Der Hype um den Türkei-Deal hat der Türkei in die Hände gespielt", so ein Diplomat. "Doch dann wurde klar, dass es Erdoğan gar nicht möglich war, den Flüchtlingsstrom wie einen Wasserhahn auf- und abzudrehen." Dies hatte er allerdings geglaubt. Im Frühling 2016 wurde ein Protokoll eines Treffens zwischen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Tusk und Erdoğan von der Webseite "euro2day.gr" geleakt. Darin wird Erdoğan mit den Worten zitiert: "Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien zu jeder Zeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen. (…) Wie wollen Sie also mit den Flüchtlingen umgehen, wenn Sie kein Abkommen bekommen? Die Flüchtlinge töten?"

Die Verzweiflung über die nicht abreißenden Flüchtlingsströme war damals so groß, dass man versuchte, um jeden Preis einen Deal abzuschließen, "koste es, was es wolle", wie ein Insider sagt. Aber schon damals gab es Kritik an dem Vorgehen, weil damit "Erwartungshaltungen in der Türkei" geschaffen wurden.

Das Abkommen nahm Formen an. Doch im März 2016 fühlten sich einige EU-Staaten von Deutschland überrumpelt. "Merkel hat Tusk damals einfach übertrumpft", so ein Insider. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte und die deutsche Kanzlerin hätten den Text ausgearbeitet. Die anderen EU-Delegationen seien quasi vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Der Gipfel Anfang März ging als "Pide-und-Pizza-Treffen" in die Geschichte ein.

Die deutsche Kanzlerin wollte demnach die Visaliberalisierung und die Eröffnung neuer Beitrittskapitel für die Türkei in dem Deal verankert haben, obwohl klar war, dass einige Mitgliedstaaten, insbesondere Zypern, dagegen waren. "Dass gerade die CDU-Chefin diese beiden Punkte ins Paket gepresst hat, ist natürlich blanker Zynismus", so ein Insider. Denn Merkel soll der türkischen Regierung damit Hoffnungen auf etwas gemacht haben, wovon klar war, dass es wegen der nicht verwirklichbaren Einstimmigkeit in der EU nicht zustande kommen wird. Dies war vielleicht türkischen Diplomaten klar, aber Erdoğan offensichtlich nicht.

Damals verlief die Trennlinie für die Lösung der Flüchtlingskrise vor allem zwischen Deutschland und Österreich. Österreich hatte zuvor mit den beiden mitteleuropäischen EU-Staaten Slowenien und Kroatien und den beiden südosteuropäischen Staaten Serbien und Mazedonien sukzessive Filtermaßnahmen an den Grenzen eingeführt. Bestimmte Personengruppen wurden gar nicht mehr durchgelassen, bis Mazedonien die Grenze zu Griechenland praktisch wieder komplett dichtmachte.

Sogwirkung stoppen

Doch Merkel, so Insider, wollte das nicht anerkennen, weil sie dadurch möglicherweise den Deal mit der Türkei unterlaufen sah. Für Beobachter war aber klar, dass die Sogwirkung, die von Deutschland ausging, nicht beendet werden konnte, solange die griechisch-mazedonische Grenze offen war und die Flüchtlinge nach Mitteleuropa reisen konnten. Das Türkei-Abkommen ergab ohne die Grenzschließung demnach gar keinen Sinn. (Adelheid Wölfl, 12.4.2018)