Glaubt man der internationalen Presse, dann leben wir im Zeitalter des Populismus. Die Medien begründen dies auf verschiedene Weise, doch was sagt die Wissenschaft dazu? Wie können Entwicklung und Erfolge populistischer Parteien eingeordnet und bewertet werden? Treffen nicht überhaupt auf jedes Land spezifische Faktoren zu, so dass allgemeine Aussagen eigentlich unmöglich sind?

Nun beschäftigt sich die moderne Politikwissenschaft als Teilbereich der Sozialwissenschaft nicht mit Tagespolitik im engeren Sinn, sondern es gilt vielmehr, eine Beobachtung, zum Beispiel den Wahlerfolg oder Misserfolg einer Partei, in ein größeres Ganzes einzuordnen. Dies ist die Voraussetzung, um etwa zu erklären, warum unter gewissen Umständen Parteien eines bestimmten Typs eher erfolgreich sind als andere. Die Politikwissenschaft versucht, in der Fülle der beobachteten Ereignisse, Muster und allgemeine Abläufe zu erkennen, um generell gültige Aussagen über Ursachen und Wirkungen zu treffen. Genau dies möchte auch die vergleichende Populismusforschung. Trotz aller Schwierigkeiten dieses vielschichtige Phänomen zu verstehen, steht sie nicht mehr am Anfang. Daher kann diese Forschung auch etwas Licht in das Dunkel der vielen Medienaussagen zu diesem Thema bringen.

Doch um ein Phänomen analysieren zu können, muss es zunächst einmal identifiziert und zugeordnet werden. Gerade die vergleichende Politikwissenschaft steht immer vor der Herausforderung, auch wirklich Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Viktor Orbán, die FPÖ, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, der Front National oder Donald Trump werden allesamt als populistisch bezeichnet. Dennoch bestehen zwischen diesen Politikern und Parteien beträchtliche Unterschiede. Nicht selten werden rechtpopulistische Parteien in den Medien auch als nationalistisch oder rechtsextrem bezeichnet. Wie verhält sich das zum Populismus? Gleichzeitig gelten auch bestimmte Politiker des Mainstreams als populistisch. So wurden etwa Franz Josef Strauss oder Helmut Zilk schon als "populistisch" apostrophiert, lange bevor der Populismus in Europa zum Thema wurde. Wie kann die Wissenschaft ob dieser Verwirrung überhaupt vorgehen?

Was ist Populismus?

Dazu muss man wissen, dass vereinfacht gesagt, drei verschiedene Populismusbegriffe nicht verwechselt werden sollten: zum einen gibt es den Populismus als Stil, was etwa den Habitus und das Sprachverhalten des Stammtisches bezeichnet und dessen sich Politiker und Poltikerinnen verschiedener Schattierungen dann bedienen, die sich als betont volksverbunden geben wollen.

Davon gilt es den Populismus als Mobilisierungsstrategie oder strategischen Diskus zu unterscheiden – also stark emotionale Apelle, bewusste Überzeichnungen, Tabubrüche, oder grobe Vereinfachungen –, um auf schrille Weise auf sich oder seine Ziele aufmerksam zu machen. Dieser Strategie, oft des Protests, können sich auch sonst gemäßigte Parteien bedienen, wenn es für sie opportun ist. Man erinnere sich an ein ehemaliges Wahlplakat der Grünen, das suggerierte, die EU hätte nichts Besseres zu tun, als unter dem Einfluss übler Lobbys die selbstgezogenen Tomaten österreichischer Hobbygärtner zu verbieten. In anderen politischen Kulturen wie den USA oder Lateinamerika war dieser populistische Diskurs seit jeher Teil der politischen Umgangsformen. Bereits die amerikanischen Gründerväter führten Wahlkämpfe mit gegenseitigen Unterstellungen und maßlosen Übertreibungen.

Populismus als Mobilisierungsstrategie betreiben auch nichtpopulistische Parteien.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Wenn die vergleichende Populismusforschung von populistischen Parteien oder Politikern spricht, meint sie jedoch etwas Anderes. Hierbei geht es um den Populismus als eine Art Ideologie: Diese definiert sich erstens durch ihre ständige Bezugnahme auf einen abstrakten und homogenen Volksbegriff. In der Regel wird von einem wahren und rechtschaffenen Volk ohne Klassenunterschiede und Interessensgegensätze gesprochen. Als Beispiel sei hier die frühere FPÖ-Werbung "Dem Volk sein Recht" genannt:

Populismus als dünne Ideologie – der abstrakte und homogene Volksbegriff.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Dieser abstrakten und unscharfen Konzeption von Volk sind auch die typischen im Populismus verwendeten Begriffe wie "anständige Österreicher", "echte Kärntner" (wer sind die unechten?), "Heartland Americans" (wo genau fängt das Heartland an?) oder "Padanier" (wo liegt die Südgrenze des Padaniens der Lega Nord?) geschuldet.

Populismus als dünne Ideologie – unscharfe Begrifflichkeiten.
Foto: Der Standard/Andy Urban

Unscharfe, abstrakte Feindbilder

Die zweite Komponente des ideologischen Populismus ist neben dem abstrakten Volksbegriff die Bezugnahme auf eine dem Volk schadenwollende Elite oder volksfremde Gruppe. Auch diese Gruppen sind unscharf definiert und können nach Belieben geändert werden. Die Elite kann etwa etablierte Politiker und Parteien ("Altparteien"), Bürokraten ("Apparachiks"), Brüssel ("Eurokraten"), Sozialpartner ("Privilegien-Ritter"), Unternehmer ("Konzernbosse"), Bankiers ("Spekulanten"), Journalisten ("Lügenpresse"), Experten und dergleichen umfassen. Gruppen, die außerhalb des "wahren Volkes" stehend verstanden werden, sind etwa Minderheiten, Künstler (Jörg Haider: "Fäkalkünstler") oder in letzter Zeit vor allem Zuwanderer und Asylsuchende. Diese werden oft als Kombination von Feindbildern dargestellt, wie etwa die auf folgenden FPÖ-Werbungen abgebildete Mischung aus Islamist und Gangster oder der moslemische Gesichtsschleier als EU Fahne:

Cover des Magazins "Wir Steirer" der FPÖ Steiermark.
Foto: Faksimile

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Populismus als dünne Ideologie – abstrakte und unscharfe Feinbilder.
Foto: AP/Hans Punz

Der Antagonismus zwischen einem homogenen, seiner Souveränität und Würde beraubten Volk auf der einen Seite und üblen Eliten auf der anderen ist somit das zentrale Wesensmerkmal des Populismus rechter aber auch linker Prägung.

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Wahlplakat der FPÖ zur Europawahl 2009.
Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Die dünne Ideologie

Da es sich hierbei in der Substanz um ein einfaches Konzept handelt, spricht man auch von einem dünnen Kern des Populismus oder gar von einer dünnen Ideologie nach Michael Freeden1. Und weil dieses ideologische Konstrukt kein eigenes Wertesystem oder eigene Lösungen aufweist, muss es sich mit anderen Ideologien, sogenannten Wirtsideologien, verbinden, um vermeintliche Ursachen der gesellschaftlichen Probleme zu benennen und um politische Lösungen anzubieten. Bei einer Verbindung mit nationalistischen, nativistischen, rassistischen oder ethnokratischen Vorstellungen entstehen eben Rechtspopulismus oder bei radikalen sozialen Umverteilungsforderungen gegenüber Eliten im Namen "des Volkes" der Linkspopulismus. Der Populismus bietet stets das Versprechen einer radikalen Veränderung. Populisten treten somit als glaubhafte "Change Agents" auf, doch im Gegensatz zu anderen radikalen oder revolutionären Bewegungen ist der Populismus eher rückwärtsgewandt und verspricht die Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, in der die Volkssouveränität noch intakt und die Gemeinschaft heil war – daher etwa auch der Slogans: "Taking America Back", "Make America Great Again" oder "We Want Our Country Back".

Trumps berüchtigter Slogan.
Foto: APA/AFP/SAUL LOEB
Trotz ihres revolutionären Anspruchs sind Populisten, so wie der Brite Nigel Farage, rückwärtsgewandt.
Foto: APA/AFP/SCOTT HEPPELL

Gefahr für die Demokratie?

Dennoch ist Populismus per se weder antidemokratisch noch gewaltbereit, doch besteht eine starke Spannung gegenüber der liberalen Demokratie. Hierbei scheinen Repräsentation, Gewaltenteilung und unabhängige Justiz sowie die Medien als vierte Gewalt der uneingeschränkten Mobilisierung des "wahren Volkes" entgegenzustehen. Daher reiben sich Populisten vorzugsweise an Medien und Justiz und fordern Volksbefragungen. Genau dort entstehen auch die Gefahren für die liberale Demokratie, nämlich, dass Medien unter staatliche Kontrolle gebracht werden und die Justiz ihre Unabhängigkeit verliert.

Populismus messen

Um nun zu analysieren, ob Parteien populistische Inhalte vertreten, kann man entweder Software-gestützt oder von Hand, deren Programme, Reden, Wahlplakate nach einschlägigen Begriffen absuchen, die auf den Antagonismus zwischen Volk und Elite abzielen, wie das Beispiel hier zeigt:

Schlüsselwörter für eine computergestützte Untersuchung von politischen Texten wie Reden und Wahlprogramme.
Grafik: Reinhard Heinisch

Diese Ausdrücke treten bei bestimmten Parteien deutlich häufiger auf als bei anderen. So zeigt dies etwa eine Untersuchung von Teun Pauwels in "Political Populism, a Handbook"2, anhand der deutschen Parteienlandschaft.

Ideologisch flexibel

Neben der Auswertung von Programminhalten, auch Manifestoanalyse genannt, sowie von Interviews mit Politikern, statistischen Untersuchungen von Wählerinnen und Wählern und Parteigängern, gibt es auch standardisierte Expertenumfragen, etwa zu Einschätzung von politischen Positionen und ihrer Intensität. Dies weist auf einen weiteren Aspekt populistischer Parteien hin: ihre relative Bereitschaft, Positionen zu ändern und sich flexibel dem Wählermarkt anzupassen. Hierbei heben sie sich von extremistischen Parteien der Linken und Rechten ab, denen Dogma oft wichtiger ist als Opportunismus. Eine Analyse des Chapel Hill Expert Survey zur Positionierung rechter Parteien in Österreich von 1999 bis 2010 zeigt etwa den relativen starken Schwenk der FPÖ in Wirtschaftsfragen in jener Zeit.

Positionsveränderungen von österreichischen Parteien im Vergleich.
Grafik: Reinhard Heinisch

Trotz einer demonstrativen Radikalität, um sich von Elitenpositionen abzuheben, passen sich populistische Parteien dem jeweiligen politischen Umfeld gut an. Eine weitere Analyse auf Basis der Daten des Chapel Hill Expert Survey vergleicht vier euroskeptische populistische Parteien und zeigt etwa, dass der Front National die radikalste Position zu Europa einnimmt, während der belgische Vlaams Belang, die relativ moderateste vertritt, denn die EU ist dort ein großer Arbeitgeber.

Die FPÖ wiederum liegt dazwischen: sie ist europakritischer als alle anderen österreichischen Parlamentsparteien, scheut sich aber davor, analog zu Rechtspopulisten anderswo in Europa, eindeutig den Ausstieg zu fordern. Eine etwas unscharfe Position erlaubt es ihr, eine breite Wählerschicht anzusprechen – also von starken Euroskeptikern bis hin zu jenen, die trotz Unzufriedenheit mit der EU den Status quo beinhalten wollen. Gut zu sehen ist auch die seinerzeit eher moderate Position zu Europa, als die FPÖ 1999 in die Regierung drängte, und dann die viel radikalere Position, als sie vier Jahre später in der Existenzkrise wieder ihre Basis mobilisieren musste. Regierungsbeteiligung, Parteikrise und Führungswechsel sowie populistische und euroskeptische Konkurrenz erklären auch die wilden Zickzackbewegungen der Lega Nord, auch sie versuchte sich entsprechend zu positionieren.

Der Euroskeptizismus der FPÖ im internationalen Vergleich.
Grafik: Reinhard Heinisch

Populismus ist Normalität geworden

Die Frage der Zuordnung und Beschreibung populistischer Akteure und Parteien ist Grundvoraussetzung, um weiterführende Fragen zu beantworten, etwa wie jene nach den Ursachen des Erfolges dieser Gruppen. Oder nach deren Wählergruppen und den dahinterliegenden Motiven. Ein anderer Teil der Wissenschaft zielt darauf ab, die Organisationsweise, Struktur und Kommunikation populistischer Parteien zu verstehen. Aktuell beschäftigt sich die Forschung auch mit dem aufeinander Zugehen und der Kooperation von bürgerlichen und rechtspopulistischen Parteien. Gewiss scheint auch, dass das Phänomen eine gewisse "Normalisierung" durchmacht. Es handelt sich längst nicht mehr um Außenseiterparteien und ein auf wenige Staaten begrenztes Protestphänomen. Populisten sind in West- und Osteuropa in Regierungsverantwortung, kooperieren mit anderen Parteien und finden sich sogar im Wettbewerb mit anderen populistischen Formationen wie jüngst in Italien oder Niederlanden ersichtlich. Feststeht, dass der radikale Populismus keine vorübergehendes Phänomen ist, sondern ein neuer Teil der politischen Landschaft mit bleibenden Folgewirkungen. (Reinhard Heinisch, 19.4.2018)