Der Dogenpalast verdoppelt sich in der vom Nachmittagslicht geküssten Wasseroberfläche zu einem flirrenden goldenen Quadrat. Die stolze, mächtige Kirche Santa Maria della Salute löst sich im babyblauen Dunst über der Lagune in ein Fliegengewicht auf. Und vor Sonnenaufgang liegen grünlich graue Schatten über dem Palazzo Dario am Canal Grande, so als schlummere dieser bereits am Meeresgrund.

"Le Grand Canal" (1908)
Foto: Fine Arts Museums of San Francisco

In Venedig kreierte Claude Monet 1908 lichte Idyllen und melancholische Zufluchten. Allesamt – von ein paar schemenhaften Gondolieri einmal abgesehen – menschenleer; die eigentliche Hauptrolle spielt die Wasseroberfläche. Grund für das Ausgestorbensein der Szenerien – wabernd wie Traumlandschaften – war weder die frühe Morgenstund' noch selige, weil vortouristische Zeiten.

Monet, der bis Ende Juli in der National Gallery als Besuchermagnet wirken wird, hat das Quirlige vielmehr bewusst ausgeblendet. Den sich vor die Aussicht schiebenden Ausflugsdampfer, die Menschenknäuel vor den Sehenswürdigkeiten gab es schon zu jenen Tagen. Allein in den 15 Jahren vor Monets Reise stiegen die Besucherzahlen von 160.000 auf 3,5 Millionen pro Jahr.

Monet nervten die Touristen, allerdings war er selber einer. In Venedig schimpfte er, nachdem 600 Reisende mit dem Zug angekommen waren, in Briefen über den "fürchterlichen Rummel"; in Rouen stimmten ihn die Ausflügler, die ihm den Blick auf die Kathedrale verstellten, zornig.

Ideal der Pittoreske

Aber auch er folgte den Spuren des Pittoresken, wie die Ausstellung Monet & Architecture nun in 78 Gemälden des passionierten Lichtmalers – chronologisch den Wirkstätten folgend – nachzeichnet (Kurator: Richard Thomson, Universität Edinburgh). Das ästhetische Ideal des 18. Jahrhunderts war schon in Monets Kindheit populär geworden. Es galt, sich die historischen Stätten, die mittelalterlichen Kirchen, Schlösser und Abteien in "Lustreisen" anzueignen; illustrierte Reiseführer befeuerten den Hype.

Mit dem Ideal der "Picturesque", des Malerischen, hatte der Engländer William Gilpin ursprünglich zwei konträre Kategorien zu vereinen gesucht: das Schöne als das kulturell, also von Menschen Gemachte versus das Erhabene der Natur mit seiner eher überwältigenden Kraft. Das Pittoreske war dann quasi die gebändigte Wildnis wie man sie im englischen Landschaftsgarten idealisierte, eine Schönheitskategorie, die mit dem Verstand und nicht mit dem Instinkt erfahren wurde.

Diese Prägung wird Monet nie ganz abstreifen. Das Bauen von Bildern nach dem Ideal des Malerischen behielt er bei – vom Realismus der 1860er-Jahre über den Impressionismus bis zu den abstrakteren Naturstücken. Und wenn Mensch oder Architektur ihm nicht ins malerische Konzept passten, dann wurden sie – wie das Hospiz von Argenteuil oder die Waschhäuser und Fabriken am Seine-Ufer – hinter Bäumen versteckt oder völlig ausgeblendet.

Architektur als Accessoire

"Monet & Picturesque" wäre der logischere, korrektere, vermutlich aber weniger lockende Titel dieser an exquisiten Leihgaben reichen Ausstellung gewesen. Denn an Architektur im engeren Sinne war Monet nicht interessiert. Vielmehr arbeitete er sich an ihr nur als Maler ab, sie war ein den Blick lenkender Baustein auf dem Weg zum "malerischen" Bild, ein Accessoire, das in Form und Farbe die Natur kontrastierte, bisweilen psychologisierend – wie in stürmischen Strandstücken – an die Existenz des Menschen erinnerte. Vor allem war sie aber für Monet ein Utensil zum Erzielen von Lichteffekten.

Über dem Pfad durch die Dünen erinnert ein kleines Haus daran, dass man sich nicht in völliger Abgeschiedenheit befindet: "La Falaise à Varengeville", 1882.
Foto: The New Art Gallery, Walsall

Licht war das, was Monet sein Leben lang fesselte. Aber um dessen Zauber zu bannen, suchte er ständig neue Sparringpartner. Ein wahres Paradies für Effekte war Wasser in allen Aggregatzuständen: Meer, Flüsse, Teiche, Seen als je nach Strömung und Kräuselung mal mehr, mal weniger spiegelnde Oberflächen.

So erzählen spärliche Lichtflecken von einem trüben Tag in Le Havre, tanzen Fischerhütten und schaukelnde Kähne als farbige Schatten über die Seine, oder es bilden die Reflexionen eines Kirchturms gemeinsam mit aufragenden Zypressen und Bootsmasten ein kompositorisches Stakkato aus senkrechten Linien.

Von den Segeln der Boote regelrecht verstellte Architektur: "Le Musée du Havre", 1873.
Foto: The National Gallery, London

Der wahre Lichtkitzel begann für den Impressionisten aber dann, wenn Wasser zu Tröpfchen in der Luft wird. Monets Bilder vom Gare Saint-Lazare (1877) mit dampfenden Lokomotiven hat man oft als Jubelbilder des Fortschritts gelesen. Im Grunde aber verschluckt der Qualm das sich in Eisen und Stahl Manifestierende, windet sich um die Verstrebungen der Eisenbahnbrücke. Monet verbirgt das Moderne hinter Schleiern, er transformiert Materie in Luft und Licht: "Andere Künstler malen eine Brücke, ein Haus, ein Boot. Ich dagegen will die Luft malen, die die Brücke, das Haus, das Boot umgibt, die Schönheit der Luft, die diese Objekte umgibt."

Vibrierende Pinselstriche

Auch in den Pariser Boulevards löste er die Hausfassaden in vibrierende Pinselstriche auf: La Rue Montorgueil, Paris (1878) ist dominiert von den Farben der Tricolore, von den Fahnen, die am Nationalfeiertag vor jedem Fenster wehten und die Monet in ein ziemlich abstraktes Farbgewitter übersetzte. Atemberaubend wie am berühmten Boulevard des Capucines (1873) die Äste der Alleebäume und der Stein der Bürgerhäuser im grellen Licht der Frühlingssonne zu einer Symphonie in Gold verschmelzen.

"London wäre ziemlich hässlich, wenn es den Nebel nicht gäbe", ließ Monet 1901 erkennen, was ihn wirklich faszinierte. Wer sich unten am Victoria Embankment stehend enttäuscht fragt, wie Monet diese erhabenen Blicke auf Waterloo und Charing Bridge und die Houses of Parliament im Hintergrund werfen konnte, dem sei verraten: vom Balkon im fünften Stock des Savoy aus. Dreimal war er zwischen 1899 und 1901 dort abgestiegen, um zu malen, und musste – je nach Tageszeit und Motiv – nur den Sessel verrücken.

Das Hotel Savoy gefiel Monet, weil es an der Biegung der Themse lag und er sich so während des Tages verschiedenen Motiven widmen konnte: Am Morgen wendete er sich Richtung Osten zur Waterloo Bridge, am späten Vormittag und am Nachmittag in Richtung Charing Bridge und Houses of Parliament. Am späten Nachmittag suchte Monet das St. Thomas Spital auf, wo er das Parlament dann frontal mit der sich senkenden Sonne malen konnte.
Foto: Kunsthaus Zürich (links); RMN-Grand Palais / René-Gabriel Ojéda (rechts)

Zu dieser Zeit konnte sich Monet das Savoy bereits gut leisten. Aber er hatte ziemliche finanzielle Durststrecken durchlebt, insbesondere in den 1860er- und 1870er-Jahren. Sanieren konnte er sich etwa mit Bildern aus Antibes; mit Postkartenkitsch in Apricot, Pink und Lindgrün, der insbesondere bei amerikanischen Sammlern Gefallen fand.

Auch in Rouen genoss er das bequeme Privileg, vom Ankleidezimmer eines Damenmodengeschäft auf die Westfassade der Kathedrale zu blicken. Nur wenige Minuten lang konnte er an den Leinwänden arbeiten, bevor der kurze Augenblick, die Stimmung, die er bannen wollte, verflogen war und er an einem anderen Bild weiterarbeitete. Er verewigte, wie das Licht Stück für Stück die Fassade hinuntertropfte, die blauen Schatten zerronnen oder die Sonne das gotische Maßwerk mit fast schon fluoreszierendem Rosé betupfte. Sich in London an fünf aus 30 Werken dieser in alle Welt verstreuten Serie "betrinken" zu können, erlebt man sicher nur einmal.

Besessen von tropfendem Sonnenlicht und rinnenden Schatten: Dreißig Mal verewigte Monet die Fassade der Kathedrale von Rouen. Heute sind die Gemälde in alle Welt verstreut.
Foto: Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Beyeler Collection (links); Museum of Fine Arts, Boston (Mitte); Private Collection (rechts)

Mit Monet gibt es jedoch schon bald ein Wiedersehen – sogar in Wien! Ab 21. September legt man in der Albertina den Fokus auf Monets Farben und die Pflanzen- und Wasserwelt in seinem Garten in Giverny. (Anne Katrin Feßler aus London, 17.4.2018)

National Gallery, bis 29. 7.

Die Reise nach London erfolgte auf Einladung der National Gallery.

Kontrastierende Stimmungen am Abend und am Morgen: Die Westfassade der Kathedrale von Rouen (zwischen 1892-1894 entstanden)

Foto: Klassik Stiftung Weimar Museen (links), Amgueddfa Cymru - National Museum Wales (rechts)

"Vétheuil l'hiver" (Vétheuil in Winter), 1878-79

Foto: The Frick Collection, New York

"La Falaise à Varengeville" (The Cliff at Varengeville), 1882

Foto: Private Collection, USA, Courtesy of Richard Green Gallery, London

Beide: "Le Grand Canal" (The Grand Canal), 1908 (oben)

Foto: Fine Arts Museums of San Francisco (oben), Nahmad Collection, Monaco (unten)