Es ist ja nicht schwer zu erraten, wohin die Reise diesen Sommer gehen soll. Ob es tatsächlich etwas wird, steht auf einem anderen Blatt – und über ungelegte Eier soll man nicht gackern.

Dafür zu üben und zu trainieren ist aber eine ganz andere Sache. Auch weil der Weg ein Stück des Zieles ist – erst recht an einem Bilderbuch-Frühlingstag: Die Veranstalter des St. Pöltener Ironmans hatten vergangenen Samstag zur "Site-Inspection" geladen. Es galt, den Rad-Part des Halbdistanz-Triathlons abzufahren. Und weil die niederösterreichische "Metropole" ohnehin auf halbem Weg nach Linz liegt, sprach nichts dagegen, das Rad ins Auto zu packen und die Einladung zur 90-Kilometer-Gruppenausfahrt anzunehmen.

Foto: thomas rottenberg

Es war ein Traumtag. Also war es kein Wunder, dass da nicht nur eine Handvoll Radfahrer anrückten, um gemütlich und im Rudel jene Strecke zu inspizieren, die am 27. Mai zwischen 1,9 Schwimm- und 21 Laufkilometern auf dem Plan stehen wird. Allerdings unter geringfügig anderen Spielregeln: Versucht man beim Triathlon auf dem Rad möglichst viel Zeit auf den Auflegern zu verbringen, weil Windschattenfahren verboten ist, gilt bei Gruppenausfahrten das Gegenteil. Aus guten Gründen: Auf Auflegern schaffe sogar ich eine zumindest ansatzweise aerodynamische Position. Allerdings hat die ihren Preis: Die Stabilität ist enden wollend. Schnelle, scharfe Manöver sind schwieriger als am Straßenrad. Schon das Umgreifen zur Bremse kostet jene Zehntelsekunde, die man braucht, um nicht in den Vordermann zu knallen, wenn irgendwas Unerwartetes passiert.

Foto: thomas rottenberg

Wenn 300 oder 400 Radfahrerinnen und Radfahrer aller Leistungs- und Altersklassen gemeinsam unterwegs sind, ist davon auszugehen, dass irgendwann irgendwas passiert: Einer vergisst ein Handzeichen – sein Hintermann knallt in ein Schlagloch. Irgendwem hüpft die Kette raus. Ein anderer freut sich so über Landschaft und Wetter, dass er nur links und rechts schaut – während der neben ihm nur Augen für den Po direkt vor sich hat … und so weiter: Radfahren in der Gruppe ist wunderschön – aber auch wenn jeder und jede so diszipliniert wie möglich fährt, ist die Knautschzone trotzdem die eigene Haut. Beim Laufen stolpert man dann halt und holt sich selten mehr als ein blutig geschlagenes Knie. Bei einem Sturz auf Asphalt bei 35 oder 40 km/h mit angeschnalltem und nachfolgendem Gerät sieht das rasch anders aus. Und 35 km/h sind auf dem Rennrad keine Hexerei – nicht, wenn man in der Gruppe und kompakt rollt.

Foto: thomas rottenberg

Genau das macht ja den Reiz des Straßenradfahrens aus. Das Gefühl zu fliegen – von Szenenbild zu Szenenbild, von Landschaft zu Landschaft. Und die sanften Kuppen von St. Pölten Richtung Krems, die malerischen Wachau-Kilometer der Donau entlang und die kleine Hügelei durch den Dunkelsteinerwald zurück gehören mit zum Schönsten, das man in Österreich auf dem Rad erleben kann – erst recht bei diesem Wetter. Und ohne den Druck eines Wettkampfes. Denn der stand erst am nächsten Tag auf dem Plan. In Linz. Zu Fuß.

Foto: thomas rottenberg

Freilich: Wer sich einen ganzen Marathon auf die To-do-Liste setzt, fährt am Tag davor mit ziemlicher Sicherheit keine 90 Kilometer auf dem Rad. Schon gar nicht mit einem Beinahe-30er-Schnitt und 800 Höhenmetern. Aber bei den Trainingsumfängen, die zur Vorbereitung für einen Marathon und andere Langdistanzen eben dazugehören, geht sich sowas dann schon aus. Insbesondere dann, wenn man nicht vorhat, auf Anschlag, sondern mit Genuss zu laufen – und sich die Startplätze hier (halbwegs) redlich verdient und erlaufen hat.

Foto: thomas rottenberg

Linz-Marathon-Renndirektor Günther Weidlinger und WeMove-Runningstore-Kopf Michael Wernbacher hatten Eva und mir je einen Gratisstartplatz spendiert. Nicht zuletzt, weil ich in den Wochen davor bei den allsonntäglichen "Wien trainiert für Linz (und manche für den VCM)"-Longjog-Laufgruppen, die von meinem Trainer Harald Fritz koordiniert wurden, hin und wieder bei einer Mid-Tempo-Gruppe den Routenscout und Pacer gegeben hatte. Ich habe darüber hier schon geschrieben.

Ich bin in Linz schon einmal den Halbmarathon gelaufen – und habe Lauf, Stadt und Atmosphäre auch damals genossen.

Auch heuer sollte Linz für Eva und mich einfach ein netter Lauf werden.

Foto: thomas rottenberg

Für meinen Coach und seinen prominentesten Schützling war der Lauf heuer aber mehr. Weit mehr: Lemawork Ketema hat zweimal den "Wings for Life"-Worldrun gewonnen und scheiterte nur knapp am österreichischen Marathon-Olympialimit (das hierzulande strenger als vom IOC festgelegt ist). Zuletzt hatte "Lema" mit einer zachen Verletzung zu kämpfen.

Linz, so der Plan, sollte ihn wieder auf Erfolgskurs bringen: Es galt, das Limit für die Marathon-EM (im August in Berlin) zu knacken.

Auf diesem Weg sollten ihn zwei äthiopische Pacer begleiten. Und auch wenn Profiläufer sich am Tag vor einem Wettkampf in der Regel schonen, ist Linz dann doch nicht so groß, dass sich ein bisserl Sightseeing am Samstag nicht ausgehen würde.

Foto: thomas rottenberg

"Race day". Auch wenn das Rennen erst um 9.30 Uhr beginnen und es bei uns nur der "Halbe" sein würde, läutete der Wecker früh. Aus zwei einfachen Gründen: Da das Aufstehen sowieso immer mühsam ist, macht es keinen Unterschied, ob man es früh oder sehr früh tut. Dafür hat man dann aber genügend Zeit, gemütlich und stressfrei noch einmal Ausrüstung und Strategie durchzugehen …

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… und sich auch über ein echtes Frühstück zu freuen. Vor einem ganzen Marathon würde ich um Kuchen, Eierspeis und Co einen weiten Bogen machen und genau drauf achten, was ich esse. Beim Halben ist das – für mich – nicht so dramatisch. Trotzdem sollten zwischen Essen und Start dann ein paar Stunden liegen. Aus naheliegenden und wohl leicht nachvollziehbaren Gründen.

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Bei uns kam noch etwas dazu: Eva war schwer verkühlt. Dezent formuliert. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich ihren Start abgesagt. Nur: Sie fragte nicht, sondern erklärte, sie würde sich die DNS-Option bis zuletzt offenhalten. DNS steht für "did not start". Und auch falls sie loslaufen würde, wäre ein DNF ("did not finish") kein Drama: "Ich sehe das als Longjog und laufe langsam und – so weit es geht."

Weil Finisher-mit-Medaillen-Selfies aber zum Pflichtprogramm jedes Wettkampfs gehören und zwischen unserem Hotel und dem Start auf der Voest-Brücke der Hauptplatz mit dem Ziel lag, fragten wir dort, ob wir uns kurz eine Medaille ausborgen dürften. Anderswo undenkbar. Aber Linz ist anders: Das spürt man. Die Stewards lachten – und reichten uns gleich eine Volldistanzplakette, "damit es sich auszahlt". Eva strahlte: "Super, jetzt können wir uns den ganzen Schas ersparen – und gleich brunchen gehen."

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Das taten wir natürlich nicht. Und wer einmal am Start ist, läuft dann auch. Der Linz-Marathon beginnt traditionell auf der Autobahnbrücke der Stadt. Startblöcke gibt es nicht. Eine Fahrtrichtung gehört den Marathonläufern, den Staffeln und den Viertelmarathonis (die aber, so wie Inlineskater und Handbiker viel früher starten). Die andere den Halbdistanzlern. Die Elite rennt – wie überall üblich – ein paar Sekunden vor der Masse los.

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Das ist sinnvoll und bei insgesamt 20.000 Aktiven auch eine praktikable Lösung – hat aber einen Haken: Die beiden Autobahnauffahrten, über die man dann in die Stadt kommt, sind nicht exakt gleich lang. Damit alle Läufer die gleiche Ziellinie haben, liegt die Zeitnehmungsmatte, bei der der Halbmarathon tatsächlich beginnt, einige hundert Meter nach dem Startbogen. Das weiß nicht jeder: Wieso die anderen dort, wo "Start" steht, gemütlich weitergehen, während nebenan schon gerannt wird, irritiert alle Jahre wieder. So mancher startet seine Uhr auch zu früh, rennt los – und wundert sich dann, wieso er oder sie ewig bis zum ersten Kilometerschild braucht.

Foto: thomas rottenberg

Manche Läufer kennen die Strecke – und sind ein bissi überschlau: Sie starten korrekt auf der Halbmarathonspur, klettern dann über die Leitplanke auf die Marathonspur – und sparen sich ein paar hundert Meter. Freilich: Vermutlich dauert das Klettern in etwa so lange wie das korrekte Laufen. Wozu es gut sein soll, sich selbst im Rennen um die goldene Klobürste zu bescheißen (es geht ja wirklich um nix), habe ich aber auch anderswo noch nie kapiert.

Foto: thomas rottenberg

Wir gingen es wirklich entspannt an. Mit einem Schnitt von 6’05" auf den ersten Kilometern. Auch, weil das Wetter viel zu schön war, um sich an einem Sonntagmorgen zu stressen – und die Stimmung auf und entlang der Strecke einfach fein war. Eva legte eine solide Fährte aus Taschentüchern, war damit aber wahrlich nicht die Einzige: Da niesten und husteten etliche.

Irgendwann lachte sie: "Auf seine Art ist das ja trotzdem ein Tempolauf."

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Es war warm. Richtig warm. Für uns "Hobetten" bedeutet das: Sonnencreme, runter vom Gas – und viel trinken. Bei der Elite ist das ein bisserl kniffliger. Um die hatte Günther Weidlinger sich am Abend zuvor noch Sorgen gemacht: "Die Jungs sollen nicht überhitzen. Ein paar Grad kühler als angesagt wäre ideal."

Aus der Besucherperspektive und ohne jeden Druck war das Wetter aber schlicht grandios: Die Blicke über die Donau und auf die Stadt habe ich in Linz bisher eigentlich nie wirklich charmant und fein gefunden. Heute war das anders.

Foto: thomas rottenberg

Eva lief gut und solid. Weit langsamer, als sie es kann. Aber das lag an mir: Ich drückte das Tempo ganz bewusst. Verkühlt Vollgas zu geben kann sehr rasch böse enden – und zwar bevor man es selbst merkt. Besonders dann, wenn es heiß ist, man zu wenig trinkt, man auf der Strecke Bekannte trifft und mit ihnen tratscht. Mit Carola Bendl-Tschiedel etwa – die hatten wir viel weiter vorn erwartet.

"Ich geh spazieren", erklärte die "Rennsteigkönigin", als wir sie einholten und sie ein paar Minuten mit uns mittrabte: Etwa bei Kilometer 8 hatten sich überwunden geglaubte Probleme wieder gemeldet. Bendl-Tschiedel ist ehrgeizig – aber alles andere als dumm: Schmerzen und Krämpfe sind Warnzeichen. Es ist eine Frage von Vernunft und Erfahrung zu wissen, wann man da die Stopptaste drückt: "Es gibt auch andere Läufe."

Foto: thomas rottenberg

Wir hatten langsam begonnen. Relativ weit hinten im Feld. Trotzdem wurden wir permanent überholt. Da nicht aufs Gas zu steigen fordert Disziplin.

Seit wir Carola hinter uns zurückgelassen hatten, hatte Eva immer wieder einen kleinen Zahn zuzulegen versucht. "Ich will es einfach hinter mir haben", lautete ihre Erklärung – ich bremste trotzdem weiter. Sie fand das eher unleiwand.

Nun aber überholten wir fast ununterbrochen – und wurden kaum mehr überholt. Denn um den 14. Kilometer begann, was bei Volksläufen im Hauptfeld immer etwa zu Beginn des dritten Drittels passiert: Die Overpacer gingen ein. In Scharen. Und zum Gotterbarmen.

Foto: thomas rottenberg

Die Hitze tat dann das Ihre dazu – und die Rettungskräfte hatten plötzlich alle Hände voll zu tun. Ich war jetzt froh, dass ich den Zorn meiner Freundin auf mich gezogen hatte, als ich sie – quasi – gezwungen hatte, untertourig zu fahren.

Es war zwar immer noch gut möglich, dass wir diesen Lauf nicht beenden würden – aber wenn, dann tunlichst nicht im Rettungswagen: Sanis sollen bei Lauf- und sonstigen Veranstaltungen da sein, sich aber so richtig langweilen. Dazu meinen Teil beizutragen ist mir ein echtes Anliegen.

Foto: thomas rottenberg

Für österreichische Verhältnisse ist Linz eine echte Lauf-Partystadt. Natürlich gibt es auch hier Streckenteile, auf denen man allein ist. Mit New York, Berlin, Boston, Köln oder Athen kann Linz stimmungsmäßig nicht mithalten – aber den Wienern blasen die Oberösterreicher ganz gehörig den Marsch.

Woran das liegt? Keine Ahnung. Aber Nonnen, die am Streckenrand Menschen feiern, die das dritte Gebot eher "unkatholisch" leben, habe ich noch nie erlebt.

Foto: thomas rottenberg

Auf der Landstraße, am letzten Kilometer, holten wir dann auch noch den Mann mit den gelben Ballons ein. Er lief vom Start weg immer ein paar hundert Meter vor uns. Er trug, so hatte es jedenfalls von der Ferne aus gewirkt, einen Anzug aus dickem braunen Stoff.

Irgendwann hatte ich ihn aus den Augen verloren, aber jetzt war er plötzlich neben und dann knapp hinter uns. Wenn auch ohne Anzug. Das Publikum kannte und feierte ihn.

Was Mr. Bean und sein Affe für eine Geschichte zu erzählen gehabt hätten, werde ich wohl nie erfahren …

Foto: thomas rottenberg

… denn plötzlich gab Eva Gas. Und zwar so richtig: Ich genoss den Blick, als die Landstraße sich zum Hauptplatz öffnete und der Jubel, der uns über das Kopfsteinpflaster getragen hatte, zu einem fetten "Roar" wurde – und verschlief ihren Antritt komplett.

Als ich endlich aus meinem gemütlichen Traummännleinmodus hochfuhr und in die Gänge kam, war sie so weit vorn, dass ich sie kaum noch einholte.

Foto: thomas rottenberg

Die Ziellinie gehörte dann ihr. Und der Blick nach oben machte mich trotzdem jetzt schon stolz: Auch wenn Eva sich während der zweite Hälfte des Laufes schon geärgert hatte, dass das keine "gute Zeit" werden würde, war ich – stellvertretend – sehr zufrieden: Wer halb krank in ein Rennen geht, von dem er oder sie am Abend zuvor noch selbst sagt, dass der Start "eher ungewiss" sei, muss – wenn er oder sie dann doch durchläuft – keine PB ("Personal Best") anpeilen. Das wäre grob fahrlässig – wenn dann trotz einem ständigen bremsenden Pacer beim dritten Halbmarathon die zweitbeste Zeit (2:05:00, das nur nebenbei) rausschaut, kann und darf man drauf auch stolz sein.

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Ganz abgesehen davon, dass jeder und jede stolz sein darf und soll, der so ein Rennen "finisht" – immer und egal in welcher Zeit. Erst recht, wenn man dabei eine Stadt, die man bisher stets nur unter "Aha, gibt es eben auch" eingeordnet hat, als richtig schön erlebt.

Trotzdem schaut man danach natürlich auf die Uhr. Schließlich berechnet die ja ein bisserl mehr als nur Strecke und Zeit des soeben zurückgelegten Laufes – und analysiert und bewertet auch den Trainingszustand der letzten Tage.

Aber allzu ernst sollte man das, was der Wecker sagt, dann lieber doch nicht nehmen. (Thomas Rottenberg, 18.04.2018)

Die Startplätze wurden von Linz-Marathon und WeMove-Runningstore zur Verfügung gestellt, Reise und Aufenthalt zur Gänze selbst bezahlt. Die Teilnahme an der Ironman-Radrundfahrt war gratis und stand jedermann offen.

Foto: thomas rottenberg