Hat den American Dream auf ihrer Seite: Cardi B.

Foto: Jora Frantzis

Sieg oder Niederlage – da sind sich viele uneins. Klar ist, dass Cardi B on top ist. Die New Yorker Rapperin hat eben ihr Debütalbum Invasion of Privacy dort veröffentlicht, wo sie berühmt geworden ist: im Netz.

Seitdem laufen die Zählwerke heiß: Hunderte Millionen Streams in kürzester Zeit, das Album rangiert auf Rang fünf der am meisten gestreamten Alben aller Zeiten bei Apple Music. Cardi B ist damit die (erst) fünfte weibliche Rapperin, die in den Billboard-Charts Nummer eins wurde – nach Nicki Minaj, Eve, Foxy Brown und Lauryn Hill.

Cardi B

Hip-Hop ist die zurzeit erfolgreichste Musik des Planeten, dass ausgerechnet Cardi B ihr populärster Star ist, macht nicht alle glücklich: Eine übersteuerte Trashtante aus den Untiefen des Reality-Fernsehens, aus der Hysteriezone der sozialen Medien. Wie zum Trost erhielt auf der anderen Seite des Spektrums am Wochenende der Rapper Kendrick Lamar den Pulitzer-Preis.

Lamar markiert den intellektuellen Gegenpol zur niederschwelligen Unterhaltung der Cardi B. Während sie sich selbst Thema ist, betrachtet Lamar das Leben als Afroamerikaner in größeren Zusammenhängen. Der für sein Album Damn mit dem Medienpreis geadelte Rapper gilt als eloquenter Beobachter, dessen Texten eine fast schon philosophische Sichtweise nachgesagt wird.

Echt von der Rolle

Hip-Hop gilt schon lange als die Speerspitze der afroamerikanischen Kultur, doch das Fach verändert sich ständig. Zwar zählen immer noch Dinge wie Street-Credibility und damit die Authentizität der Künstler, doch Hip-Hop ist heute eine über weite Strecken ahistorische Kunst geworden. Das Weitertragen des Soul und Funk über Samples ist weitgehend verschwunden. Ob Cardi B die Isley Brothers kennt oder einen Syl Johnson? Eher nicht, aber das ist bedeutungslos geworden.

Bezüglich Authentizität ist der bürgerlich Belcalis Almanzar gerufenen Rapperin allerdings nicht viel vorzuwerfen, höchstens, dass sie damit nicht geizt. Bei der 25-Jährigen gilt, was die oft gesampelten The Dramatics einst gesungen haben: "Whatcha see is whatcha get." Andere schlüpfen in Rollen, Cardi B ist echt von der Rolle. Ihre proklamierte Invasion des Privaten lebt sie vor, ihr Privatleben ist ihr öffentliches Leben. So wurde sie zu der, die sie ist. Als sie noch als Stripperin arbeitete, legte sie mit ihren über soziale Medien verbreiteten Ansichten zum Job den Grundstein ihrer Popularität. Bald folgten ihren oft aberwitzigen verbalen Auszuckern Millionen.

The Tonight Show Starring Jimmy Fallon

Daraus resultierte ein Engagement in einer Realityshow – ebenfalls kein Format für Zwischentöne, sondern eines, das der Frontalattitüde ihres Wesens entsprach. Denn Cardi B antwortet, bevor ihr eine Frage gestellt wird – so etwas wie Geheimnisse sind doch nur Ballast, an den man sich erinnern muss. Selbst ihre Schwangerschaft gab sie vergangene Woche vor laufender Kamera bekannt – immerhin die Entstehung verlief im Privaten.

Smartphone-Musik

Deshalb kam es für viele überraschend, wie traditionell sich einzelne Tracks ihres Debüts anhören. Be Careful erinnert gar an Lauryn Hill, I Like It kokettiert etwas über Gebühr mit Despacito. Das war im letzten Sommer ein Welthit für die beiden Puerto-Ricaner Luis Fonsi und Daddy Yankee mit über fünf Milliarden Youtube-Aufrufen.

Ob ihr Publikum ihr den Latino-Schmäh abkauft oder nicht, ist aber egal. Bisher zeigte sie wenig Scheu, es zuzugeben, wenn sie beim Ideenklau erwischt wurde. Selbst ihr Hit Bodak Yellow – ebenfalls auf dem Album enthalten – soll abgekupfert sein. Der Track ist so etwas wie ein Instantklassiker der Smartphone-Musik. Mit Trap-Beats-Merkmalen ausgestattet, passiert darin fast nichts. Ein zäher Basslauf unten, darüber zischeln rachitische Hi-Hats – in diesem Sandwich deklamiert Cardi B über Cardi B: "I don't dance, I make money moves."

Der amerikanische Traum

Dass bei so einer Person Kritik nicht verfängt, scheint klar, ja, mit ihrer rücksichtslosen Offenheit gegenüber den eigenen Defiziten kommt sie ihr zuvor oder wischt sie mit einem zünftigen Vierbuchstabenwort vom Tisch.

Schließlich hat Cardi B den American Dream auf ihrer Seite. Der mag aus dem Alltag vieler US-Amerikaner verschwunden sein, wenn er einem der ihren dennoch widerfährt, nährt das jedoch die eigenen Hoffnungen, da ist man großzügig. Ausgemacht scheint, dass Invasion of Privacy der Soundtrack des US-amerikanischen Sommers wird. Wie lange Cardi dabei ihr Hysterielevel aufrechterhalten kann, wird sich weisen – immerhin ist ja ein Baby im Anmarsch. (Karl Fluch, 19.4.2018)