Norbert Gstrein, "Die kommenden Jahre". Roman. € 22,70 / 285 Seiten. Carl Hanser, München 2018


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Leander Steinkopf, "Stadt der Feen und Wünsche". Eine Erzählung. € 16,50 / 111 Seiten. Hanser, Berlin 2018

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In Norbert Gstreins neuem Roman Die kommenden Jahre geht es um das Dauerthema Flüchtlinge. Gstreins Ich-Erzähler mit Namen Richard ist Glaziologe, also Gletscherforscher. Seine Eltern sind, wahrscheinlich in Tirol, Hoteliers. Den erwachsenen Alpenrepublikaner Richard hat es allerdings nach Hamburg verschlagen, der Liebe wegen.

Seine Frau Natascha ist Schriftstellerin. Und was für eine! Sie ist Realistin durch und durch, ein weiblicher Hasserich alles Transzendenten: "Wenn sie die Kirche nur erwähnte, vergaß sie nie dazuzusagen, dass es in ihren Augen eine Verbrecherorganisation sei."

Bei einer Veranstaltung hat die Schriftstellerin Herrn Farhi, dessen Frau und deren zwei Söhne kennengelernt. Der Bauingenieur ist vor kurzem von Damaskus nach Deutschland geflohen. Natascha stellt der Flüchtlingsfamilie ihr Wochenendhaus, das in Ostdeutschland idyllisch an einem See liegt, zur Verfügung. Gstreins Hauptfigur Richard schwant nichts Gutes.

Man weiß ja, wie man im deutschen Osten mit Asylanten umgeht. Zuerst scheint sich der Exilösterreicher zu irren: Einige Nachbarn suchen zaghaft den Kontakt mit der Flüchtlingsfamilie. Herr Farhi wiederum nimmt deutsche Gewohnheiten an, ja will sogar zum Christentum konvertieren.

Gescheitertes Hilfsprojekt

Diese Wirrungen und Irrungen des Lebens im Exil schildert Norbert Gstrein gekonnt mit sprachlicher Komik. Doch leider gibt es da noch eine jugendliche Bande, die ihr Unwesen treibt. Herr Farhi wird auf deren Provokationen grundfalsch reagieren. Das Hilfsprojekt für die syrischen Flüchtlinge läuft schief, scheitert. Man ist betroffen, wie die Schriftstellerin Natascha, die das Ganze initiiert hat, wie ihr Mann, der Ich-Erzähler Richard.

Richard, der Exilösterreicher, ist hin- und hergerissen. Ist Deutschland für ihn wirklich der richtige Lebensplatz? Nein, sagen zwei seiner Gletscherforscherkollegen. Der "Rest jüdischen Instinkts" lässt die Mexikanerin Idea Selig Klartext reden: "Wenn es plötzlich alle zu den Teutonen ziehe, dann müsse etwas faul daran sein." Richards Freund Tim Markowich geht noch einen Schritt weiter. Dessen Vater war aus Titos Jugoslawien nach Kanada geflüchtet, viele der Verwandten hätten es nur bis Deutschland geschafft: "Mein Vater ist in Kanada ein freier Mann, während meine Onkel in Deutschland nach fünfzig Jahren immer noch glauben, sie müssten dankbar sein, dass sie für die feinen Herren die Drecksarbeit verrichten dürfen." Der Kanadier Tim schaut seinem österreichischen Freund ernst ins Auge und stellt die Existenzfrage: "Willst du unter Deutschen sterben, Richard?"

Dass man tatsächlich unter Deutschen sterben könnte, und zwar weil einen das Gespenst der Langeweile erdrückt, zeigt der junge deutsche Autor Leander Steinkopf. Er hat sieben Jahre in Berlin verbracht, nun ist er nach München abgewandert. In seiner Erzählung Stadt der Feen und Wünsche flaniert der Ich-Erzähler durch die Spree-Metropole.

Fischbuden, verrauchte Cafés und der "Burgerladen am Boxhagener Platz" sind Orte, an denen Steinkopfs Held rastlos und ratlos vorbeizieht. Der Mittzwanziger teilt das Schicksal all jener, die er in Berlin kennengelernt hat: "Alle kommen mit so großen Erwartungen hierher, dass der Gedanke undenkbar wird, dass hier bloß Mittelmaß zu finden ist. Und alle Enttäuschten fühlen sich allein mit ihren Gefühlen, sie wagen sie nicht auszusprechen, sie wollen nicht klein sein in dieser großen Stadt." In Steinkopfs Erzählung begegnet man heillosen Hipstern und müden Psychopathen. Ganz wenige haben es geschafft, in der Kunstszene eine Rolle zu spielen – sie lernen ihren Text, der immer gleich bleibt, täglich neu.

Steinkopfs Antiheld hat ein besonderes Hassobjekt: die Legionen von Fahrradfahrern. Sie sind "sportlich, praktisch, ökologisch, meditativ und auch noch cool, so eindeutig gut, dass es mir Angst macht. Die Radfahrer verpesten die Umwelt mit ihrer Vorbildlichkeit." Steinkopfs Antiheld hat nichts gegen Sex, aber in wen soll man sich verlieben? In Berliner Mädels? Ach, die! Sie alle sind "schön, aber nicht erotisch, haben eine völlig jugendliche Ausstrahlung, leben Pragmatismus, als wäre es Eleganz". Für Leander Steinkopf hat Berlin ein Problem: Zu spät, viel zu spät wurde es zur europäischen Metropole. "Es gab die großen Zeiten für Athen und Rom, für Paris und Wien. Wenn man dort dabei war, hat man Weltgeschichte miterlebt."

Heute, so Steinkopfs Held, müsste man dafür nach Asien oder Südamerika auswandern. Die Kraft dazu hat er nicht. Berlin, das ist die Hauptstadt all jener, die das Leben als Nullsummenspiel ekstatisch auskosten. Leander Steinkopf weiß aber auch, dass die Leerstelle, die Berlin nicht füllen kann, zugleich die Konstante für eine Generation ist, die versucht, Fuß zu fassen – oft vergeblich: "Eine Werteordnung niederreißen und dann keine neue installieren, dann vierzig Jahre später, das sind wir."

Wo der Spaß aufhört

In Norbert Gstreins Roman wird nie so richtig klar, wo die Ironie anfängt und wo der Spaß aufhört. Daher beschleicht einen bei den antideutschen Hasstiraden der Gedanke, dass Gstrein in seinen Text ganz bewusst Klischees webt, die bei einer österreichischen Klientel ganz gut ankommen. Und deutsche Leser sind ja per se freudig erregte Selbstgeißler. Die Flüchtlingsproblematik ist an sich eine globale Angelegenheit. Leander Steinkopf macht aus Berlin und seinen hippen Bewohnern einen globalen Ort existenzieller Hilflosigkeit. In Berlin ist man ökologisch korrekt, ökonomisch arm, politisch grün, vegan und multikulti – also auf keinen Fall fremdenfeindlich. Aber das hilft einem auch nicht weiter.

Man kann es so sagen: Norbert Gstreins Held denkt: Österreich, du hast es besser. Und bleibt doch in Hamburg hängen, weil er den alpenrepublikanischen Rechtspopulisten auch nicht über den Weg traut. Leander Steinkopfs Antiheld denkt: Wien, du hattest es einmal besser. (Andreas Puff-Trojan, 20.4.2018)