Barbara Bleisch
Warum wir unseren Eltern nichts schulden

Hanser-Verlag 2018
208 Seiten, 18,50 Euro

Foto: Hanser Verlag

STANDARD: Die Vorstellung, dass wir als Töchter und Söhne unseren Eltern etwas schulden und zurückgeben sollten, ist weit verbreitet. In ihrem Buch "Warum wir unseren Eltern nichts schulden" vertreten Sie die These, dass dem nicht so ist. Warum?

Bleisch: Als ich mich mit dem Thema auseinanderzusetzen begann, war das sogar auch meine Ansicht. Als Philosophin interessierten mich die Gründe dafür. Und ich bin zum Schluss gekommen, dass die herkömmlichen Gründe für eine solche Schuld aufseiten der Kinder nicht überzeugen: Weder der Verweis auf das Lebensgeschenk, noch der auf das "dicke Blut" oder der auf die elterliche Fürsorge bürden den Kindern moralische Pflichten auf. Kinder haben um ihre Existenz nicht gebeten, und die Kinder aufzuziehen war die Pflicht der Eltern. Außerdem haben leider nicht alle Kinder fürsorgliche Eltern. Kinder im Erwachsenenalter generell als moralische Schuldner ihrer Eltern zu sehen, überzeugt mich deshalb nicht.

STANDARD: Sie schreiben, dass man nicht zur Dankbarkeit verpflichtet sein kann, dass es aber dennoch ein feiner Zug ist, wenn man seinen Eltern gegenüber dankbar ist. Worin liegt der Unterschied?

Bleisch: Ich unterscheide zwischen einer Dankesschuld und einer Dankbarkeit als Tugend oder Haltung. Die Dankesschuld verpflichtet jemanden zu Dank, der einseitig etwas erhalten hat – etwa wenn einem jemand das Leben rettet. Im Falle der Kinder kann von Einseitigkeit meist nicht die Rede sein: Auch Kinder haben ihren Eltern viel geschenkt. Die Sichtweise auf das Kind als kleiner Vampir, der die Eltern aussaugt, scheint mir nicht angemessen. Dankbarkeit als Haltung ist aber auch eine Tugend, eine lobenswerte Einstellung – für Thomas von Aquin war sie sogar die erste aller Tugenden. Wenn wir dankbar auf das blicken, was wir füreinander tun und einander sind, gelingen soziale Beziehungen besser. Ich bezeichne die Dankbarkeit deshalb auch als "soziales Schmiermittel".

Barbara Bleisch stellt sich die Frage, ob erwachsene Kinder ihren Eltern etwas schulden.
Foto: Mirjam Kluka

STANDARD: Sollte man sich vom Pflichtbegriff in Familiendingen ganz verabschieden?

Bleisch: Nein. Familien sind keine moralfreien Zonen. Wir dürfen niemanden missbrauchen, ausbeuten, instrumentalisieren. Aber wenn wir uns fragen, wie wir miteinander umgehen sollen, dann sollten wir versuchen, die Eltern-Kind-Beziehung als ganz besondere Bindung besser zu verstehen – und danach zu fragen, warum wir Grund haben, uns speziell um deren Gelingen zu bemühen.

STANDARD: Sie plädieren für einen Perspektivenwechsel: Nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft liege das Potenzial für Eltern-Kind-Beziehungen. Inwiefern?

Bleisch: Wenn ich sage, es gilt das Potenzial herauszustreichen, dann geht es mir vor allem darum, aus dieser Rechnerperspektive rauszukommen. Ganz generell gilt: Schuldgefühle trennen; sie verbinden nicht. Die normative Kraft, die uns in persönlichen Beziehungen verpflichtet, sollte das lebendige Interesse aneinander oder sogar wechselseitige Liebe sein. Wenn wir uns fragen, wie wir miteinander umgehen sollen, dann muss die Frage also lauten: Wie kann diese Beziehung weiter gelingen? Und welche Bedeutung hat sie für uns und unser Leben? Familie ist ein Spiegel unserer Identität. Die Eltern bis ins hohe Alter begleiten zu können birgt vielleicht Momente, in denen man noch einmal alte Geschichten erzählen und Dinge verstehen kann, die man als Kind nicht sehen konnte.

STANDARD: Was macht Familienbeziehungen so unvergleichbar und einzigartig?

Bleisch: Es gibt sicher keine Beziehung, die identitätsstiftender ist als die Eltern-Kind-Beziehung. Mit Hannah Arendt kann man sagen: Wir sind immer "angefangene Anfänge". Dass wir uns also nie ganz neu erfinden, sondern anknüpfen an eine Familiengeschichte, hat enorme Auswirkungen darauf, wie wir uns selber, aber auch unsere Verwandten sehen. Zumal man Familienbeziehungen – anders als Freundschaften – weder wählen noch künden kann. Wir können zwar den Kontakt abbrechen, aber unsere Eltern hören deshalb nicht auf, unsere Eltern zu sein. Die Idee eines Ex-Vaters oder einer Ex-Mutter ist absurd. Und: Familienbeziehungen sind unersetzbar. Wir können nicht als Erwachsene neue Eltern finden, und Eltern werden sich auch keine neuen Kinder suchen. Das macht die Beziehung speziell wertvoll – es macht uns aber auch sehr verletzlich.

STANDARD: Was hat es mit der Verletzlichkeit auf sich?

Bleisch: Verletzlichkeit ist die natürliche Kehrseite von Liebe, Freundschaft und Zuneigung. Wer vertraut, liebt, sich öffnet, kann auch einfacher ausgebeutet, enttäuscht, verraten werden. Daran sehen wir schon: Verletzlichkeit ist ein normativer Begriff. Das heißt, angesichts dieser Verletzlichkeit ergeben sich für uns Pflichten. Diese Pflichten haben wir aber nicht, weil wir die Kinder unserer Eltern sind, sondern weil es der Respekt oder die Menschlichkeit gebieten, Vertrauen nicht zu missbrauchen und auszunutzen.

STANDARD: Es geht Ihnen beim Familienbegriff allerdings nicht um die blutsverwandte Kleinfamilie.

Bleisch: Das, was uns in unserer Identität prägt, ist sicher beides: genetische Abstammung und soziale Beziehung. In früheren Zeiten konnte man die genetische Abstammung oft gar nicht nachweisen, etwa mit Vaterschaftstests, wie das heute zum Teil gemacht wird. Aber es gab auch damals Kuckuckskinder, außerdem Stiefkinder und Ammen. Kinder hatten früher sogar oft mehr familiäre Bezugspersonen als heute, und aus diesen Beziehungen entstehen viele Gründe, sich umeinander zu kümmern. Blutsverwandtschaft ist aber nicht irrelevant, auch sie prägt uns. Aus den Genen allein erwächst den Kindern allerdings keine Pflicht. Ein Kind hat beispielsweise gegenüber einem Samenspender keine Pflichten.

STANDARD: Familie nennen Sie auch ein "geistiges Trainingslabor". Was kann man hier lernen?

Bleisch: Da wir Familie nicht wählen, sondern einfach haben, treffen wir in ihr auch auf Personen, die vielleicht gänzlich andere Ansichten vertreten als wir selber. In einer Zeit von Echokammern und Filterblasen kann Familie da eine wunderbare Chance zur Horizonterweiterung sein.

STANDARD: Wann ist es aber besser, zu seinen Eltern den Kontakt abzubrechen?

Bleisch: Kinder dürfen und müssen sich von ihren Eltern emanzipieren. Wenn Eltern nicht einsehen, dass Kinder nicht ihre "Gemächsel" sind, wie Immanuel Kant dies sagte, sondern Wesen, die sie in die Selbstständigkeit zu erziehen haben, dann wird es schwierig, dass diese Beziehung langfristig gelingt. Allerdings gibt es in jeder Beziehung das, was ich das Prinzip der Trägheit nenne. Ein Kontaktabbruch ist radikal und hinterlässt Wunden – auf beiden Seiten. Von heute auf morgen zu gehen, ohne Vorwarnung, ist nicht das, was wir als respektvoll bezeichnen. Max Frisch sagte einmal, wir sollten einander die Wahrheit wie einen offenen Mantel hinhalten, nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen. In Familien gibt es oft zu viele nasse Tücher und zu wenige offene Mäntel.

STANDARD: Sie appellieren an die Gesellschaft und sagen, es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, allen Menschen ein würdevolles Leben im Alter zu garantieren. Eine Forderung, die man nur in einem gut ausgebauten Sozialstaat stellen kann?

Bleisch: Philosophie hat meiner Meinung nach immer auch ein gesellschaftskritisches Potenzial. Wenn die Gesellschaft die Kinder in die Pflicht nimmt, sich im Alter um ihre Eltern zu kümmern, müssen wir fragen, was die Grundlage für diese Pflicht ist. Eine abzutragende Schuld, die sich aus der Kindheit ergibt, ist keine überzeugende Grundlage. Auffällig ist überdies, dass eine solche Schuld behauptet wird – aber meist nur Frauen die Pflegeaufgaben übernehmen. Wenn Frauen in der Erwerbsarbeit, in Führungspositionen und Aufsichtsräten vertreten sein sollen, dann muss es auch eine Entlastung für Frauen in der Familie geben. Gerade weil wir die Familie als wichtige Stütze der Gesellschaft begreifen, hat die Gesellschaft ihrerseits Grund, die Familie bei Bedarf auch zu entlasten. Wer jemals die Pflege von Familienangehörigen übernommen hat, weiß, wie verbindend und kostbar diese Erfahrung sein kann – und wie trennend und beziehungsgefährdend sie aber auch ausfallen kann. Eine Gesellschaft, die auf die Tragfähigkeit der Familienbande setzt, sollte deshalb bereit sein, erwachsene Kinder in dieser Aufgabe zu unterstützen. (Christine Tragler, 24.4.2018)