Sieg nach zehn Tagen Dauerprotest: In Eriwan und anderen Städten gingen vor allem junge Armenier auf die Straße und verlangten den Rücktritt des neuen Premiers, der bereits zehn Jahre Präsident war.

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Oppositionsführer Nikol Pashinjan wurde freigelassen

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Eriwan/Athen – "Hayastan!", rufen die Menschen, immer wieder "Hayastan". Nikol Pashinjan nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, weil seine Stimme schon heiser wird vom dauernden Brüllen auf Rednertribünen mit und ohne Mikrofone. "Wir müssen auf die Zukunft von Hayastan schauen, auf die unmittelbare Zukunft!", ruft er.

"Hayastan" nennen die Armenier ihr Land, und jetzt ist alles gerade gekippt, zehn, ja zwanzig Jahre Staatsmacht liegen am Boden, die Regierung und ihr Parlament sind am Ende. "Die "Republik Armenien muss ein freier und glücklicher Staat werden!", ruft Pashinjan, der Oppositionsführer. Zehntausende sind auf dem Platz der Republik in Eriwan, dicht an dicht gedrängt. Der Abendhimmel ist schon aufgezogen.

Der Tag der Revolution in Armenien beginnt in Trotz und Verbissenheit. Die "Serge-Nein"-Bewegung ist schnell wieder auf den Straßen in Eriwan, aber auch in Gjumri und Vanadzor, den zwei anderen größeren Städten der Kaukasusrepublik. Zehn Tage geht das schon so. Serge Sargsjan ließ sich im Parlament von seiner Partei zum Regierungschef wählen. Zwei Amtszeiten als Präsident hat er schon hinter sich. Der 63-Jährige drückte einen Verfassungswechsel durch und ließ Armenien vom Präsidialsystem zum parlamentarischen System wechseln. Er würde keine "dritte" Amtszeit anstreben, dieses Mal als Premier, so hatte Sargsjan versprochen. Dass er sein Wort nicht hielt, haben ihm viele nicht verziehen.

Nikol Pashinjan ergriff die Gelegenheit. Der Chefredakteur der Oppositionszeitung Haykakan Zhamanak ist nicht eben ein Unbekannter in der armenischen Politik. Pashinjan war der Einheizer bei den Auftritten von Armeniens früheren Präsidenten Lev Ter-Petrossjan. Seit dessen Abtritt 1998 machte Pashinjan, mittlerweile 42, Opposition gegen den autoritären, moskautreuen Kurs der beiden folgenden Präsidenten, Robert Kotscharjan und Serge Sargsjan.

Vergangenen Samstag trafen sich Regierungs- und Oppositionschef vor laufenden Kameras in einem Hotel in Eriwan auf. Sargsjan kam im Anzug, Pashinjan in Militärklamotten, mit schwarzer Baseballmütze und einem Rucksack. Er wolle nur über die Bedingungen für den Rücktritt des Regierungschefs sprechen, sagte er. Sargsjan stand nach zehn Minuten auf und ging. Am selben Tag ließ er Pashinjan noch festnehmen.

Aber der starke Mann Armeniens hatte den Bogen überspannt. Am Montagnachmittag schlossen sich an die 200 unbewaffnete Soldaten den Demonstranten in Eriwan an. Da wusste Sargsjan, dass er verlor. "Nikol Paschinjan hatte recht. Ich habe mich getäuscht", hieß es in einer Erklärung, die Sargsjans auf der Webseite seines Premiersamtes veröffentlichen ließ. "Die Bewegung auf der Straße ist gegen meine Amtszeit. Ich beuge mich ihrer Forderung."

Der Sieg der Jungen

Pashinjan selbst ist mit 7,7 Prozent Stimmen in diesen Machtkampf gegangen. So viel hatte das liberal-proeuropäische Parteienbündnis Yelq bei den Parlamentswahlen 2017 offiziell erhalten. Neun Sitze, und einer davon für Pashinjan. Armeniens Wirklichkeit war anders, so stellt sich jetzt heraus. "Das ist der Sieg der jungen Generation. Ich habe nicht gedacht, dass sie so viel Energie hat", sagt Avetik Ishkanjan, der Vorsitzende des armenischen Helsinki-Komittees am Abend. "Noch nie in meinem Leben habe ich so etwas gesehen, einen solchen Enthusiasmus!", sagt er am Telefon und korrigiert sich dann: Nur 1973, zu Sowjetzeiten, sei es ähnlich gewesen. Da hatte Armeniens Fussballmannschaft die sowjetische Meisterschaft gewonnen.

Sargsjan trat am Abend sein Amt an seinen Stellvertreter Karen Karapetijan ab. Die Opposition verhandelt nun über eine Interimregierung und Neuwahlen. (Markus Bernath, 24.4.2018)