STANDARD: An CAR-T-Zellen wird seit 20 Jahren geforscht. Erst jetzt kommen Medikamente auf den Markt. Warum hat es so lange gedauert?

Jennifer Brogdon: Es stimmt, an den CAR-T-Zellen wird seit den späten 1980er-Jahren geforscht. Die Grundidee ist recht einfach: Wie schaffen wir es, eine T-Zelle so zu manipulieren, dass sie eine Tumorzelle erkennt und vernichtet. Die Idee klingt simpel, doch wie bei jeder anderen neuen wissenschaftlichen Idee dauert es etwas, diese Idee in der Klinik umsetzbar zu machen. Anfang 2000 konnte diese Hürde genommen werden. CAR-T-Zellen wurden allerdings zuerst bei soliden Tumoren eingesetzt.

STANDARD: Und das hat funktioniert?

Brogdon: Es gab Probleme. So versuchte man zum Beispiel die CAR-T-Zellen bei Krebspatienten zu untersuchen, die HER-2-positiv waren (ein spezifischer Marker, der in verschiedenen Krebsformen wie etwa in Dickdarm-, Brust-, Eierstock- und Nierenkrebs überexprimiert wird; Anm.). Es wurde eine Kombination von diesen CAR-T-Zellen zusammen mit einem Wachstumsfaktor namens Interleukin-2 verabreicht. Das stellte sich als toxisch für das Lungengewebe heraus. Nach einem Todesfall erlitt die Forschung einen Rückschlag. CAR-T-Zelltherapie wurde auch bei anderen soliden Tumoren angewandt, doch es zeigte sich, dass diese Therapie schwierig sein kann, weil das sogenannte therapeutische Fenster sehr klein ist – das heißt CAR-T-Zellen konnten nicht immer präzise zwischen gesundem Gewebe und krankem Tumorgewebe unterscheiden.

Nach der Entnahme der weißen Blutkörperchen des Patienten, der Leukapherese, werden diese eingefroren. Das ermöglicht dem Arzt, diese Leukapherese zu dem Zeitpunkt durchzuführen, den er für den günstigsten hält.
Foto: Novartis

STANDARD: Und was war die Erklärung?

Brogdon: Dass diese Therapie nicht spezifisch genug war. Es waren damals ja auch erst die Anfangszeiten der zielgerichteten Therapien und man hatte vergleichsweise wenig Erfahrung mit der T-Zell-Therapie. Es zeigte sich aber auch, dass T-Zellen überall im Körper sind, beziehungsweise überallhin kommen können.

STANDARD: Und trotz dieser Probleme wurde weiter geforscht?

Brogdon: Ja, erstaunlicherweise setzten die Wissenschaftler an einigen Universitätszentren vor allem in den USA, ihre Forschungstätigkeiten an den T-Zellen fort – und zwar lange bevor diese Entwicklungen für die Pharmafirmen relevant wurden. In den letzten zehn Jahren liefen an den Universitäten viele Forschungsprojekte parallel, auch jene etwa zu den CD19-Zellen, das sind Lymphozyten, also weiße Blutkörperchen, die im Immunsystem ebenfalls eine wichtige Rolle spielen und zwar in Form der Immuntherapie, die zwischen 2010 und 2011 in die Klinik kam, also auch an Patienten angewendet wurde.

Wenn die Zellen des Patienten in der Manufakturstätte einlangen, werden sie einem speziell dafür zugeordneten Team übergeben. Es sorgt dafür, dass die Identitätskette während des gesamten Herstellungsprozesses erhalten bleibt. Als Identitätskette bezeichnet man den Prozess, der sicherstellt, dass jedes individuelle CAR-T-Zellprodukt dem einzelnen Patienten zugeordnet werden kann.
Foto: Novartis

STANDARD: Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Brogdon: Es geht um die Erforschung des Immunsystems im Allgemeinen. Es gibt ja viele unterschiedliche T-Zellen, die auch unterschiedliche Funktionen haben. Je mehr man verstand, wie die Dinge zusammenspielen, umso besser konnte man dann auch Therapien entwickeln. Doch eine der Herausforderungen war lange Zeit, die manipulierten Zellen auch in ausreichender Form im Labor herstellen zu können. Das ist aber die Grundvoraussetzung, wenn man Medikamente im großen Rahmen produzieren will.

STANDARD: Und wann kam der Durchbruch?

Brogdon: Der Durchbruch kam 2010. Da konnte man zeigen, dass CAR-T-Zellen, die sich gegen das Oberflächenprotein CD19-richten bei Patienten mit B-Zell-Lymphomen wirklich etwas ausrichten können. 2010 gab es dann wirklich bahnbrechende Publikationen in zwei großen medizinischen Fachjournalen, die den Erfolg der T-Zell-Therapie bei zwei Patienten mit Chronisch-Lymphatischer Leukämie (CLL) dokumentierten. Plötzlich gab es eine neue Therapie, die unheilbar kranken CLL-Patienten wirklich helfen konnte. Das waren so genannte "austherapierte" Patienten, also Menschen, die alle verfügbaren Medikamente bereits bekommen hatten, und bei denen die Erkrankung trotzdem weiter voranschritt.

STANDARD: Also CAR-T-Zellen als letzte Option?

Brogdon: Genau. Die CAR-T-Zellen führten bei drei Patienten mit genau diesem Krankheitszustand zu einer erstaunlichen Verbesserung des Gesundheitszustands Bei zwei dieser drei Patienten hat sich der Tumor innerhalb von vier Wochen vollständig zurückgebildet, nachdem sie diese neue Therapie bekommen hatten, und ohne dass sie eine weitere Therapie erhalten mussten. Das ist revolutionär und war für uns der Grund, in diesen Bereich einzusteigen. Das erste Kind bekam die Therapie dann 2012. Es war Emily Whitehead und sie ist seit sechs Jahren krebsfrei. Das war "amazing".

Bei der CAR-T-Therapie werden die T-Zellen eines Patienten im Labor umprogrammiert.
Foto: Novartis

STANDARD: Und wie ging es dann aus Sicht eines Pharma-Konzerns weiter?

Brogdon: Wir setzten uns unmittelbar nach der Publikation mit der Penn Medicine, also der Einrichtung, in der die CAR-T-Zellen entwickelt worden waren, in Verbindung und starteten eine Prüfung, um das Potenzial als auch die Risiken, die mit so einer Entwicklung im großen Rahmen verbunden sind, abzuklären. Und sehr schnell wussten wir: Das ist eine äußerst komplizierte Therapie – sowohl in der Herstellung als auch in der Verabreichung, weil sie wirklich personalisiert, also mit den eigenen T-Zellen des jeweiligen Patienten, stattfinden muss. 2012 schlossen wir dann einen Kollaborationsvertrag mit der University of Pennsylvania.

STANDARD: Worin besteht die Kollaboration?

Brogdon: Zum einen in der Herstellung der Zellen an sich, also dem Prozess, der dafür notwendig ist. Zum anderen geht es aber auch darum, diese Therapie auch auf andere Krankheitsbereiche auszudehnen, sie also auch bei anderen Formen von Krebserkrankungen einzusetzen. Als wir einstiegen, war die Wirksamkeit ja nur für CLL bewiesen. Emily war weltweit das einzige Kind, das diese Therapie für die Behandlung von Akuter Lymphatischer Leukämie (ALL) bekommen hatte.

Die T-Zellen eines Patienten kommen in der Manufakturstätte an, wo sie genetisch so programmiert werden, dass sie den Krebs des Patienten sowie bestimmte Zellen erkennen und bekämpfen, die ein spezifisches Antigen oder einen Marker tragen.
Foto: Brent Stirton/Verbatim Agency

STANDARD: Mittlerweile aber auch bei DLBCL, einer anderen Form von Blutkrebs.

Brogdon: Genau. Aber die wirklich große Herausforderung war es, eine Produktionsstätte einzurichten, die in der Lage war, dieses sehr spezielle Produkt auch herstellen zu können. Denn sie wissen: Dieses Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) wird auf Basis der eigenen Blutzellen erstellt. Dafür müssen Ärzte in den Kliniken weltweit bei den betreffenden Patienten T-Zellen ernten – und sie dann in unsere Produktionsstätte in New Jersey schicken.

STANDARD: Warum genau nach New Jersey?

Brogdon: Für New Jersey sprachen eine ganze Reihe von Gründen. Für uns der wichtigste war, dass dort sehr viel Erfahrung im Bezug auf Good Manifacturing Practice (GMP) existierte – was in diesem hochkomplexen Prozess essenziell ist.

STANDARD: Ist New Jersey weiterhin die einzige Produktionsanlage?

Brogdon: In New Jersey ist unsere primäre Produktionsstätte, die unsere globalen Studien unterstützt, aber auch das jetzt in den USA zugelassene Produkt herstellt. In Europa haben wir mit dem Fraunhofer Institut in Leipzig im Rahmen unserer klinischen Studien zusammengearbeitet.

STANDARD: Inwiefern?

Brogdon: Wir arbeiten mit menschlichen Zellen. Das Manipulieren dieser Zellen ist extrem kompliziert. Zuerst müssen wir sie ernten, dann müssen wir sie mit genmanipulierten Viren verändern, dann vermehren und dann wieder zurückschicken. Das ist logistisch ein riesiges Unterfangen.

Während der Verarbeitung werden die modifizierten T-Zellen gezüchtet, gewaschen, in einem bestimmten Medium formuliert und eingefroren.
Foto: Brent Stirton/Novartis/Verbatim Agency

STANDARD: Wo könnten CAR-T-Zellen noch zum Einsatz kommen?

Brogdon: Wir denken, dass wir sie auch noch bei anderen Formen von hämatologischen Erkrankungen, also Erkrankungen des blutbildenden Systems einsetzen können. Dazu laufen derzeit eine Reihe von Studien. Aber es könnte auch für den einen oder anderen soliden Tumor eine Option werden. Wir forschen intensiv daran. Wir müssen aber noch viel lernen.

STANDARD: Denken Sie, dass die CAR-T-Zellen auf lange Sicht ein Ende der Knochenmarkstransplantation werden könnte?

Brogdon: Zum jetzigen Zeitpunkt ist so eine Vision sicherlich zu früh. Wir sind noch nicht soweit. Aber die Vision ist da, denn jene Patienten, die eine CAR-T-Zell-Therapie bekommen und gut darauf angesprochen haben, sind selbst ohne Knochenmarkstransplantation nun seit mehreren Jahren krebsfei. Es geht im ersten Schritt erst einmal darum, herauszufinden, welche Patienten von dieser neuen Form der Therapie tatsächlich und langfristig profitieren. Denn ihnen könnte man dann tatsächlich eine Knochenmarkstransplantation ersparen.

STANDARD: Wie lange hält der Effekt der CAR-T-Zellen an. Gab es Fälle, wo die Behandlung wiederholt werden musste?

Brogdon: Viele Patienten zeigen lang anhaltende Effekte der Therapie nach nur einer Infusion. Der erste CLL Patient ist seit mehr als 7 Jahren krebsfrei. Andere, wenige Patienten erhielten in frühen klinischen Studien eine zweite Dosis CAR-T-Zellen, da der Krebs zurückkam oder keine CAR-T-Zellen mehr im Blut der Patienten nachgewiesen werden konnten.

Bevor die Zellen zur Infusion an das behandelnde Zentrum zurückgeschickt werden, müssen sie strengen Tests unterzogen werden. Damit wird die Qualität sichergestellt.
Foto: Brent Stirton/Novartis/Verbatim Agency

STANDARD: Angenommen, die Behandlung würde nun breit angewendet, erwarten Sie Komplikationen?

Brogdon: Wir stehen hier ganz am Anfang einer Reise und arbeiten eng mit den Zulassungsbehörden, Ärzten und Patienten zusammen, um Nebenwirkungen und Komplikationen so gering wie möglich zu halten. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit erstellen wir einen sehr peniblen Kriterienkatalog, um diese Therapie nur jenen anzubieten, bei denen sie auch mit großer Wahrscheinlichkeit wirksam ist.

STANDARD: Es sind aber bei einigen Patienten in den ersten drei Wochen nach der Infusion auch lebensgefährliche Nebenwirkungen aufgetreten.

Brogdon: Ja, das stimmt. Einige Patienten leiden unter einem so genannten Zytokinsturm, dem Cytokine Release Syndrom. Im Rahmen der Studien haben wir jedoch auch Methoden entwickelt, mit denen sich diese Nebenwirkung besser kontrollieren lassen. Da haben wir also Vorarbeiten für die Kliniken geleistet, an die wir die CAR-T-Zellen liefern. Es war auch ein Durchbruch die CAR-T-Zell Therapie auf weitere Kliniken auszuweiten. Denn es war nicht klar, dass eine Therapie, die an einer einzigen Klinik in Pennsylvania mit einem hohen technischen Aufwand angewandt wird, in anderen Kliniken überhaupt machbar ist. Inzwischen haben wir erfolgreich globale klinische Studien durchgeführt.

Die modifizierten CAR-T-Zellen werden verpackt und eingefroren. Das Einfrieren erhält die Qualität der Zellen während des Versands.
Foto: Brent Stirton/Novartis/Verbatim Agency

STANDARD: Es gab in diesen Studien aber auch Patienten, bei denen die Therapie nicht anschlug. Hat man sich Gedanken gemacht, warum nicht?

Brogdon: Die Gründe sind sicherlich vielschichtig. Wir vermuten, dass es in einigen Fällen etwas mit dem Alter zu tun haben könnte. Vor allem Kindern mit seltener Leukämie sprechen sehr gut an. Aber wir befassen uns derzeit auch sehr intensiv mit den Resistenzmechanismen gegen CAR-T-Zellen. Vor allem bei Lymphomen, einer Krebserkrankung, die zum einen im flüssigen Blut ist, aber auch solide Tumoren im Lymphsystem bildet, könnte diese hybride Form eine Ursache sein. Wenn es noch Tumorreste gibt, könnte es sein, dass gerade dort ein immunsuppressives Ambiente herrscht und die T-Zellen gar nicht hinkommen. Deshalb versuchen wir zu verstehen, was in der Umgebung des Lymphoms auf molekularer Basis abläuft. Das ist aktuell das wichtigste Forschungsziel.

STANDARD: Und was wäre die Konsequenz?

Brogdon: Es kommt darauf an. Möglicherweise eine Kombinationstherapie, die auf das immunsuppressive Tumormilieu wirkt und die die Funktion der CAR-T-Zellen verbessern würde.

STANDARD: Novartis ist in der CAR-T-Zelltherapie Vorreiter, doch es drängen andere Pharmaunternehmen wie Gilead oder Celgene auf den Markt. Wie sehen Sie diese Konkurrenz?

Brogdon: Grundsätzlich ist es ein sehr ermutigendes Zeichen für Patienten, dass das Gebiet der CAR-T Zelltherapie sich so positiv entwickelt, dass es auch Konkurrenz im Markt gibt. Wir haben ähnliches im Gebiet der seltenen Krankheiten gesehen, wo zu Anfang des Jahrtausends wissenschaftliche und therapeutische Durchbrüche für Aufbruchstimmung sorgten. Auf absehbare Zeit werden CAR-T-Therapien ein hochkomplexes und technisch sehr aufwendiges Verfahren bleiben, das mit traditioneller Medikamentenproduktion nur wenig zu tun hat. So gut wie alle fahren einstweilen mit diesem zentralisierten Ansatz, der unserem ähnlich ist. Wir unterscheiden uns aber in der Herstellung – das sind vor allem technische Details. Die Behandlung bleibt sehr aufwändig, und wenn sie wirklich für viele Patienten eine Option wird, dann wir es auch eine hohe Nachfrage geben. (Karin Pollack, 2.5.2018)

Jennifer Brogdon leitet die Forschungsabteilung für Immunonkologie von Novartis.
Foto: Novartis