Für Studierende ohne Krankenversicherung ist es in Österreich oft einfacher, an Antidepressiva statt an einen Therapieplatz zu kommen.

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Es ist wieder einmal so weit. Julian sitzt im Seminar, der Professor hat eine Frage gestellt. Julian weiß die Antwort und möchte sich melden – doch so wie es in letzter Zeit häufiger passiert, wird er schon bei dem Gedanken an eine mögliche Wortmeldung vor dem Kurs voller fremder Studienkollegen nervös, er beginnt zu schwitzen, zu zittern und bekommt Herzrasen, außerdem wird ihm unglaublich schlecht. Schließlich gibt jemand anderes die Antwort – und Julian verlässt den Kurs, enttäuscht von sich selbst.

Julian, der anonym bleiben will, gehört zu den 42 Prozent der Studierenden in Österreich, die laut der aktuellen Studierendensozialerhebung unter psychischen Beschwerden leiden. Über eine Therapie hat er sich schon häufiger Gedanken gemacht – aber er stammt nicht aus Österreich und als Vollzeitstudierender ist er nicht berufstätig, und er hat keine Sozialversicherung. Studierende, die unter finanziellen Schwierigkeiten leiden, sind doppelt so häufig mit psychischen Problemen belastet, wie ihre Kollegen. Trotzdem möchte Julian es nicht bei der Enttäuschung bewenden lassen. Von Bekannten hat er die Empfehlung bekommen, die psychologische Beratungsstelle für Studierende (PBS) zu besuchen. Sie berät Studierende kostenlos in sechs Landeshauptstädten Österreichs zu studienbezogenen und persönlichen Problemen. Dabei behandeln die Psychologen vor allem jene psychischen Störungen, die unter anderem durch Leistungsdruck ausgelöst werden können: Depressionen, Ängste und Somatisierungsstörungen. Ein Viertel der Hilfesuchenden besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.

Im Studium zurückgeworfen

Im achten Wiener Gemeindebezirk sitzt Julian einem Psychologen gegenüber und erzählt von seinen Problemen, während dieser sich mit verschränkten Beinen Notizen macht: dass es ihm schwerfällt, zu präsentieren und sich im Unterricht zu melden, egal ob vor fünf oder vor dreißig Personen. Dass er, wenn er es doch schafft, sich zu überwinden, wirkt, als wäre er arrogant, weil er sich aufgrund seiner Panik abweisend verhält. Dass ihn diese Schwierigkeiten bereits des Öfteren im Studium zurückgeworfen haben. Und dass sich das mittlerweile auch auf sein soziales Umfeld im Allgemeinen auswirkt, weil Zusammenkünfte mit neuen Leuten Panikattacken auslösen. Die daraus resultierende Diagnose: soziale Phobie.

Mit Julians zweitem Termin ist sein Pensum aufgebraucht. Franz Oberlehner, Leiter der PBS, erklärt das Prozedere: "Wir bieten eine erste, niederschwellige Anlaufmöglichkeit. Unsere Kapazitäten sind allerdings stark begrenzt, deswegen müssen wir Therapiebedürftige nach Einsicht über eine psychische Erkrankung schnell weiterempfehlen."

In Österreich gibt es, im Gegenteil zu Deutschland, keine Regelung zur flächendeckenden Kostenübernahme der Therapie durch Krankenkassen, sondern eine Kontingentlösung. Kassenfinanzierte Plätze werden mit 120 bis 200 Stunden im Jahr an Therapeuten vergeben, sind rar und beinhalten nicht selten monatelange Wartezeiten. Eine Alternative ist eine selbstfinanzierte Therapie mit Zuschüssen durch die Krankenkasse. "Psychotherapeuten haben im Vergleich zu den Ärzten eine relativ schwache Standesvertretung", sagt Oberlehner: "Es ist eine schwierige Situation, weil die Zuschüsse von etwa 21 Euro seit 1991 nicht angepasst wurden." Eine kostengünstige Möglichkeit bietet zudem das Angebot der Behandlung durch Therapeutinnen in Ausbildung, die Stunden billiger anbieten. Aber auch hier beträgt der Selbstbehalt über hundert Euro im Monat – für Julian nicht leistbar.

Gratis Tabletten statt Therapie

Er wendet sich deswegen an den psychosozialen Notdienst, eine Einrichtung des psychosozialen Dienstes (PSD), der auf akute Krankheitsfälle spezialisiert ist. Auf der bekanntesten Einkaufsstraße Wiens, zwischen einem Schuh- und einem Büroartikelgeschäft, befindet sich das unscheinbare, etwas heruntergekommene Gebäude. Im sechsten Stock wird Julians Diagnose bestätigt, und es werden bereits in der ersten Einheit Antidepressiva verschrieben. Der Notdienst vergibt kostenlos Medikamente an Menschen ohne Krankenversicherung über einen begrenzten Zeitraum. "Bei den Treffen fragen sie kurz, wie es mir geht, dann erhöhen sie die Dosis der Medikamente", erzählt Julian. Da ihm eine Therapie fehlt, entscheidet er sich nach einigen Monaten, nicht mehr zum Notdienst zu gehen und die Tabletten abzusetzen. "Es ist gut, dass es so ein Angebot gibt. Aber nur Tabletten nehmen, ohne Therapie, ist sinnlos."

Erstversorgung in Krise

Der Notdienst sei eine wichtige Erstversorgung für psychiatrische Probleme und zielführend für eine akute Krise, eine dauerhafte Lösung sei er allerdings nicht, sagt Oberlehner. Dass in Österreich der Zugang zu Psychopharmaka einfacher sei als jener zu vollfinanzierten Therapieplätzen, kritisiert auch der österreichische Bundesverband für Psychotherapie (OEBVP). Laut einer Studie des Psychosomatischen Zentrums Eggenburg und der Rehabilitationsklinik Gars am Kamp von 2017 erhalten beinahe alle Österreicher, die aufgrund psychischer Erkrankungen Leistungen der Krankenkasse beziehen, eine Therapie mit Psychopharmaka (890.000 von 900.000 Patienten), während nur fünf Prozent der Psychopharmakabeziehenden eine zur Gänze kassenfinanzierte Therapie erhalten.

Julian ist nach dem Abbruch der medikamentösen Behandlung wieder therapielos. "Natürlich verstehe ich, dass nicht alles gratis sein kann, aber die Kosten der Psychotherapie sollten zumindest abhängig von Lohn und sozialem Status berechnet werden." Derzeit geht es ihm gut – bis die Panik wieder über ihn hereinbricht. (Sarah Yolanda Koss, 26.5.2018)