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Geschätzt ein Fünftel der männlichen Juden in Österreich trägt eine Kippa, eine kreisrunde Kappe aus Stoff, die oft mit Haarklammern befestigt wird.
"Saujude", sagt der Mann und bezahlt seine koscheren Semmeln, das sei ein Wort, das ihm in Wien schon öfter hinterhergerufen wurde. Der Buchhalter, blaues Sakko, graumelierter Bart, schwarze Kippa, steht in einer Bäckerei im zweiten Bezirk, traditionelles "Judenviertel" der Stadt. Zonen wie die Thaliastraße, wo muslimische Zuwanderer dominieren, meide er hingegen, "dort wird man angestänkert, es ist schade, aber so ist es". Zwar sei er auch schon von besoffenen Österreichern im "Bermudadreieck", dem Fortgehgrätzel, beschimpft worden, aber eines sei offensichtlich: "Es hat sich geändert, früher waren es die Nazis, heute sind es eher die Araber, die uns Probleme machen."
Vorfälle, wie dieser Wiener sie schildert, und noch schlimmere haben im Nachbarland zu einer umstrittenen Reaktion geführt. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, rät davon ab, sich in Großstädten öffentlich mit der Kippa zur eigenen Religion zu bekennen. Schließen sich Wiens Juden an? Macht einen die Kippa zur Zielscheibe?
Kippa, eine europäische Erfindung
Ein Betrunkener sei der einzige Mensch gewesen, der ihn in Wien jemals angepöbelt habe, erzählt Arie Folger, von Tätlichkeiten kann er schon gar nicht berichten. Dabei ist der Oberrabbiner nie oben ohne anzutreffen – schließlich sei es ein im Talmud verwurzeltes "religiöses Gesetz", den Kopf ständig zu bedecken. "Der Gedanke ist, dass Gott allgegenwärtig über uns steht", erläutert Folger, Barhäuptigkeit signalisiere Unbescheidenheit. Für Frauen gelte das Gebot dann, wenn sie verheiratet sind oder waren.
Es muss allerdings nicht immer der kreisrunde Fleck für den Hinterkopf sein. Genauso erlaubt sind Hut, Kappe oder – bei religiösen Frauen üblich – Perücken. "Die Kippa ist eigentlich eine europäische Erfindung" , sagt Folger: Die eingewanderten Juden hätten nahöstliche Trachten gegen eine dezentere Kopfbedeckung getauscht, die sich weniger mit der hiesigen Mode schlägt.
So wie nicht alle Christen in die Kirche gehen, legen natürlich auch nicht sämtliche Juden die Gebote so eng aus. Nur ein Fünftel trage ständig eine Kopfbedeckung, schätzt Ariel Muzicant, "der Rest handhabt das so wie ich: Ich trage die Kippa in der Synagoge, bei religiösen Veranstaltungen, in Gegenwart eines Rabbiners." Glaube, Tradition, Solidarität, Respekt nennt er als seine Motive, "die Grenzen sind fließend".
"Werden sie verprügelt? Noch nicht"
Selbst erlebt der Ex-Chef der Israelitischen Kultusgemeinde und Vizepräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses keine Übergriffe, er ist stets mit einem Leibwächter unterwegs. Doch aus Erfahrungsberichten schließe er, dass es in Deutschland, Schweden oder erst recht Frankreich zwar schlimmer sei, die Aggression aber auch hierzulande wachse: "Ist die Situation lebensbedrohlich? Nein. Müssen Juden auf der Straße mit Pöbeleien rechnen? Ja. Werden sie verprügelt? Noch nicht."
Von einer "Verdoppelung" der antisemitischen Vorfälle binnen drei Jahren kündet das Forum gegen Antisemitismus, wobei laut Bericht aber lediglich 32 von 503 Fällen auf direkte Beschimpfungen, Bedrohungen und tätliche Angriffe entfallen – drei Viertel der Ausfälle erfolgen via Anruf, Brief und soziale Medien. Die daraus gezogenen Schlüsse stoßen auch bei manchen aus der Kultusgemeinde auf Kritik. Martin Engelberg, der auch für die ÖVP im Nationalrat sitzt, hält die Erhebungsmethoden und daraus gezogenen Schlüsse für fragwürdig: Da würde fälschlicherweise suggeriert, Juden müssten sich in Wien vor dem Mob auf der Straße fürchten (siehe Infobox unten).
Eigene Entscheidung jedes Juden
"Der Antisemitismus steigt, wir befinden uns auf einem Allzeithoch", schließt hingegen Oskar Deutsch, Muzicants Nachfolger als Präsident der Glaubensgemeinschaft aus den Zahlen, eine Empfehlung wie sein deutscher Kollege Schuster gibt er jedoch nicht ab: "Wir werden von der Polizei geschützt und die eigenen Leute schützen uns auch. Jedes Mitglied muss selbst entscheiden, ob es Kippa trägt oder nicht."
Yaacov Frenkel, mit Bart, Anzug, Kippa leicht als orthodoxer Jude zu erkennen, setzt auf Ausweichen. Vielleicht sei er seit einer Schussattacke in seiner Zeit in Jerusalem übervorsichtig, doch die von Muslimen bevölkerten Stadtviertel meide er. "Scheiß Jude" und "Saujud" habe auch er schon gehört, und in der U-Bahn habe sich einmal ein junger Mann vor ihm aufgebaut: "Ich bin aus dem Iran und hasse Juden."
Falsch, sich zu verstecken
Jüdische Attribute zu verstecken, könne dennoch keine Lösung sein, sagt Frenkel, da sei schon die Politik gefragt. Wenn etwa die Polizei Demos zulasse, wo "Tod den Juden" geschrien werde, sei es kein Wunder, wenn dann auch bei Beschimpfungen in der U-Bahn niemand zur Hilfe eilt.
Auch Muzicant kritisiert die Behörden, ein rechtsextremes Treffen wie jenes in Bleiburg etwa dürfe nie stattfinden – aber auch er hält nichts von Schusters Rat. Er könne jede Mutter verstehen, die ihrem Sohn lieber eine Kappe statt der Kippa aufsetzt, "doch prinzipiell ist es falsch, sich zu verstecken. Sollte es irgendwann nicht mehr möglich sein, auf die Straße zu gehen, müssen wir wegziehen."
Da die Politik beim Kampf gegen Antisemitismus Konsequenz vermissen lasse, helfe sich die Gemeinde eben selbst. Immer mehr junge Juden besuchten Selbstverteidigungskurse, erzählt Muzicant: "Ich bin der Meinung, die sollen ordentlich zurückhauen können. Ein Wahnsinn – aber was sollen wir tun?"
"Ich sehe für viele komisch aus"
Mordechai, ein orthodoxer Jude mit Schläfenlocken und Bart, der vor zweieinhalb Jahren von Israel in den zweiten Bezirk gezogen ist, empfindet die Situation hingegen als entspannter. "Wien ist eine der besten Städte für Juden", sagt er: "Ich sehe für viele komisch aus, deshalb werde ich angeschaut. Aber das kann ich auch verstehen." (Gerald John, Katharina Mittelstaedt, 28.4.2018)