Ein Ohr für die gefräßigen Arbeiten der Termiten: In "The Gulf" breitet sich über das türkische Izmir eine schleichende Atmosphäre des Niedergangs aus.

Foto: Crossing Europe

Linz – Wie fängt man den Eindruck ein, dass die Dinge aus dem Lot geraten sind? Kleine Abweichungen vom Alltag, seltsame Irritationen im Miteinander. Der türkische Regisseur Emre Yeksan häuft in seinem Debütfilm The Gulf (Körfez) raffiniert Störmomente an, um das Bild eines größeren Umbruchs heraufzubeschwören. Die Veränderung lässt die Menschen jedoch seltsam unbekümmert. Man will lieber nicht zu genau hinsehen.

Cine maldito

Selim, der in jüngster Zeit aus der Spur geratene Protagonist des Films, kehrt zurück zu seiner Familie nach Izmir. Er soll hier Ruhe finden und wieder Energie gewinnen, doch dann ist es die Umwelt, die das Vorhaben durchkreuzt. Der junge Mann wird auf seinen Streifzügen von Fremden angesprochen, die in ihm einen Bekannten zu erkennen glauben. Ein Feuer bricht am Hafen aus. Übler Gestank breitet sich auf den Straßen aus. Der Sumpf steigt aus der Tiefe wieder empor.

Brüche und Sprünge

Es ist einer der großen Vorzüge von The Gulf, dass der Film diese Fäulnis nicht bestimmt. So bleibt er offen für politische Lesarten, gewinnt aber keine überdeutlichen Konturen. Emre Yeksan imaginiert den schleichenden Zerfall einer Zivilisation. Dafür benötigt er keine katastrophischen Bilder. In seiner surrealen Wirksamkeit ist der Film Arbeiten von Tsai Ming-liang oder Lucrecia Martel verwandt. Auch komische Mittel sind ihm recht, um Symptome zu ergründen, eine Lethargie und Leere, auf die etwas Neues folgen muss.

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The Gulf erhielt am Sonntag beim 15. Crossing-Europe-Festival ex aequo mit dem italienischen Beitrag Il Cratere den Special Jury Award. Das korrespondiert trefflich mit einem Jahrgang, in dem es in mehreren Filmen um Brüche und Sprünge in Welten ging, um den Eindruck eines Wandels, den man noch nicht ganz fassen kann. Ein Eindruck, der auf einem Festival, das sich von Beginn als eine Art Seismograf für die Stimmungen in Europa verstand, umso stimmiger erscheint.

Diese Risse müssen nicht immer im Gesellschaftlichen wurzeln, sie können auch ins Gefüge einer Familie führen. Besonders anschaulich wird dies in Ana Urushadzes bemerkenswertem Film Scary Mother. Er erzählt von einer Frau, deren Leidenschaft für das Schreiben mit ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau nicht mehr zu vereinbaren ist. Die georgische Regisseurin entwirft aber keine Anleitung zur Emanzipation, sie greift tiefer: Die Gegenüberstellung einer traditionellen Ordnung mit dunklen Leidenschaften und Trieben, die sich im Kreativen zeigen und deshalb tabuisiert werden müssen, befördert auch den Film in immer traumähnlichere Zonen.

Verhärtungen in Europa

Mit Widersprüchen zwischen Erfahrungen und Einbildung beschäftigt sich auch Leonardo Mouramateus in António um dois três, der in Linz mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Der Brasilianer webt darin Dostojewskis Novelle Weiße Nächte in eine kaninchenbauartig arrangierte Erzählung um Intentionen, Verfehlungen und Wiederholungen ein, die an die Rätselspiele des Nouvelle-Vague-Maestros Jacques Rivette erinnern. Antonio, ein Müßiggänger ohne große Motivationen, driftet in loser Szenenfolge durch Lissabon, in einem weiteren Schritt finden sich die Episoden um Liebe und Einsamkeit auf einer Theaterbühne wieder. Der luftige und zugleich sehr reflektierte Film wird diese Woche regulär im Kino starten (eine ausführliche Besprechung folgt).

International Film Festival Rotterdam

An den Dokumentarfilmen lag es, die Verhärtungen in Europa direkter anzugehen. Marc Eberhardt begleitet in Meuthen's Party den AfD-Politiker Jörg Meuthen 2016 beim Wahlkampf in Baden-Württemberg und damit die Wendigkeit eines Populisten, der seine Rhetorik an die jeweiligen Bedürfnisse anpasst. Der Film besticht als Studie darüber, wie jemand der Faszination der Macht erliegt.

Sprung in die Arme

Die Ungarin Bernadett Tuza-Ritter demonstriert in A Woman Captured hingegen, wie man einem jedes Rechts beraubten Menschen wirksam in die Arme springt. Im intimen Zentrum des Films steht Marish, eine 52-jährige Frau, die von einer Familie als moderne Sklavin gehalten wird – ohne Einkommen, ohne eigenes Bett, ohne Würde. Der Film, der ursprünglich als kurzes Porträt begann, führt unter anderem vor, wie ein Mensch durch den aufrichtigen Blick eines anderen ein Stück von sich selbst zurückerhält, das man schon aufgegeben hatte. A Woman Captured wurde in Linz mit dem Social Awareness Award ausgezeichnet. (Dominik Kamalzadeh, 29.4.2018)