Die Pisa-Studie der OECD hat großen Einfluss, ist aber auch umstritten.

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Erziehungswissenschafterin Sigrid Hartong: Bildung braucht auch unbeobachtete Räume.

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An den Schulen läuft gerade die Testphase für die Pisa-Studie 2018. Zwischen 9. April und 18. Mai werden in Österreich rund 7800 Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 2002 aus 315 Schulen getestet. 2015 nahmen weltweit mehr als eine halbe Million 15-/16-Jährige aus 72 Ländern und Regionen teil. Entwickelt wurde das Programme for International Student Assessment von der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Deren Rolle und die Studie selbst sind nicht unumstritten. Die deutsche Bildungsforscherin Sigrid Hartong befasst sich mit Bildungssystemen im internationalen Vergleich und hat unter anderem über Pisa und die Folgen geforscht. Sie referiert am Mittwoch, 2. Mai (17 Uhr, Hörsaal 3D, NIG, Universitätsstraße 7), im Rahmen der von Konrad Paul Liessmann in Kooperation mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" in Wien.

STANDARD: Wie kam es eigentlich dazu, dass die Pisa-Studie so einen großen Einfluss auf nationale Bildungspolitiken entwickeln konnte?

Hartong: Ein ganz entscheidender, beinahe trivialer Faktor ist, dass Menschen – und das gilt für Politiker ebenso – nach Möglichkeiten suchen, sich in dieser doch sehr komplexen Welt zurechtzufinden und Ordnung herzustellen, um Entscheidungen für sich oder andere legitimieren zu können. Zahlen, vor allem Ranglisten, wie Pisa sie bietet, befriedigen dieses Bedürfnis ganz besonders. Dazu ist die Studie sehr schnell – alle drei Jahre gibt es aktualisierte Werte für die ganze Welt, die man nehmen kann, ohne mühsam kulturelle Informationen zusammentragen und abwägen zu müssen. Das heißt, Pisa bedient eine große Wissenslücke, die aber paradoxerweise gleichzeitig mitkreiert wird.

STANDARD: Was bedeutet das?

Hartong: Zahlen und insbesondere Rankings sind ein unglaublich wirksames Kommunikations- und Überzeugungsinstrument, weil sie Klarheit und Eindeutigkeit suggerieren – und dass sie ideologiefrei, neutral und rational sind. Bei Pisa kommt dazu, dass alles von hochrangigen Experten bis ins letzte Detail durchdacht ist und sehr systematisch vorgegangen wird.

STANDARD: Und – ist die Pisa-Studie nun "ideologiefrei" oder nicht?

Hartong: Die Idee hinter der sogenannten "evidenzbasierten" Bildungspolitik, wie sie Pisa verspricht, ist ja, dass man meint, man kommt damit irgendwie aus dem Ideologiedebakel heraus. Damit unterschätzt man aber, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in der Pädagogik Ideologien im Sinne von Werten und Normen bzw. politischen Sichtweisen auf die Welt nicht nur immer "ungewollt" im Spiel sind, sondern vielmehr wichtige Kernelemente von politischem und auch pädagogischem Handeln. Das ist meines Erachtens ein grundlegender Aspekt der demokratischen Gesellschaften, dass nämlich gestritten werden darf über diese Werte, Normen und Sichtweisen, die Bildung rahmen und der Politik oder Praxis Orientierung bieten sollen.

STANDARD: Hält die "evidenzbasierte" Politik nicht, was sie verspricht?

Hartong: Ich glaube, dass man den Evidenzbegriff allgemein überschätzt und dabei das Risikopotenzial verkennt, das durch den Glauben an ideologiefreie Datenproduktionen – wie zum Beispiel Pisa – entsteht. Diese Studie ist so kompliziert, dass Otto Normalverbraucher keine Chance hat, die Vielzahl von Entscheidungen, und ja, auch Werte und Normen nachzuvollziehen, die an unterschiedlichsten Stellen der Datenproduktion drinstecken, aber hinterher kaum mehr sichtbar sind. Es erscheint wie eine Wahrheit: "Die Daten sprechen für sich." Dabei ist auch Pisa letztlich eine spezifische Sicht auf Welt wie jede andere auch, natürlich etwas durchdachter, technisierter, objektivierter. Das müsste in einem demokratischen Bildungsdiskurs viel deutlicher gemacht werden.

STANDARD: Was kann die Pisa-Studie denn für die einzelne Schule oder den Unterricht leisten?

Hartong: Ein großes Problem – vielleicht auch das Problem – liegt ¬darin, dass Pisa, um diesen unglaublich breiten Vergleich über viele Länder möglich zu machen, ein sehr hohes Abstraktionsniveau braucht. Man muss viele Einflussfaktoren herausnehmen und das, worauf man schaut, extrem reduzieren: Man testet nur ein Sample von 15-Jährigen in bestimmten Domänen – Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft usw. In dieser Hinsicht kann Pisa, nüchtern betrachtet, für Schulen und den Unterricht, der zu weiten Teilen auf lokalen Kontextfaktoren basiert, kaum etwas leisten. Pisa und Unterricht passen in diesem Sinne nicht zusammen. Dieses Problem wird von der Politik und auch von Teilen der empirischen Bildungsforschung manchmal massiv unterschätzt.

STANDARD: Inwiefern?

Hartong: Indem man etwa immer weiter mit den erhobenen Pisa-Daten arbeitet und sie als Repräsentanten für das, was in der Schule passiert, nimmt und dann versucht, daraus Kausalbezüge und Politikempfehlungen abzuleiten. Das sehe ich sehr problematisch. Spannend ist da ein aktuelles Instrument, das die OECD vor kurzem entwickelt hat: Pisa for Schools. Da können sich Schulen quasi selbst einkaufen. Sie bekommen dann ein Ranking, wo sie im Vergleich mit den Schulen in aller Welt, die bei diesem Programm auch mitmachen, und der Durchschnittsschule im eigenen Land stehen. Gleichzeitig verspricht die OECD mit dem Auswertungsbericht auch sogenannte Best Practices. Da möchte ich auf Steven Lewis, einen australischen Kollegen, verweisen, der gezeigt hat, dass diese Best Practices für alle Schulen, egal, wie sie abschneiden, egal, in welchem Kontext sie sind, immer die gleichen sind. ¬Sozusagen eine Rezeptidee, die aber – anders als die Pisa-Hauptstudie – tatsächlich versucht, auf die Schulebene durchzugreifen. Es gibt aber kein globales Standardrezept für gute Schule.

STANDARD: Sie werden an der Universität Wien zum Thema "Bildung als Verweigerung von Bildungsmonitoring?" referieren. Meinen Sie damit: Wenn wir Bildung wollen, sollten wir uns weniger auf Monitoring konzentrieren und mehr auf das, was in der Klasse passiert?

Hartong: Es geht mir darum, zu zeigen, dass durch die Eigenlogiken, die mit einem beständig ausgeweiteten Bildungsmonitoring einhergehen, Bildung in einem klassisch konnotierten Verständnis systematisch an den Rand gedrängt, ja, ich würde auch sagen, gefährdet wird. Das Monitoring soll ein Sichtbarkeitsregime produzieren. Man will sichtbar machen, was vorher unsichtbar war – was in der Schule passiert, was herauskommt –, um dann vergleichen, intervenieren oder frühzeitig fördern zu können. Dieses Sichtbarkeitsregime rückt jedoch immer dichter an die Leute im Bildungssystem heran – Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, und lässt dabei immer weniger unbeobachteten Raum.

STANDARD: Mit welchen Folgen?

Hartong: Meine These ist, dass die Dynamiken, die da zusammenspielen, dem, was für Bildung notwendig ist, diametral entgegenstehen. Zum Beispiel nicht beobachtet zu werden bei bestimmten Dingen, weil man in dem Moment die Freiheit oder den Mut hat, auch mal etwas auszuprobieren, auch Scheitern in Kauf zu nehmen, sich über nichtlineare Lebenswege zu finden, dabei auch mal ein paar Schleifen zu drehen, statt einen ¬linearen, durchtechnisierten Kurs zu fahren, den man beobachten und normalisieren kann. Bildung ist ja von der Idee her etwas, das man nicht vermessen, nicht in ein lineares Skalenmodell übersetzen kann. Und am schwersten können sich diejenigen dagegen wehren, die im Schulsystem sind.

STANDARD: Die Pisa-Studie gibt es jetzt seit bald zwei Jahrzehnten, und sie wird vermutlich auf absehbare Zeit ein Faktor im bildungspolitischen Diskurs bleiben. Wie sollten Politikerinnen und Politiker mit den Ergebnissen dieser Schülervergleichsstudie umgehen?

Hartong: Als Politikerin würde ich mir die Zeit nehmen, mich etwas intensiver damit auseinanderzusetzen, was eigentlich in der Produktion der Pisa-Studie passiert. Die OECD bietet das ja auch alles, geht aber auch davon aus, dass den 200 Seiten umfassenden technischen Report kein Politiker liest. Aber gerade für Politiker, die ja abwägen sollten zwischen unterschiedlichen Wissensquellen, um dann Entscheidungen zu debattieren und zu fällen, ist es ganz wichtig, sich die Werte und Normen, die in dieser Studie drinstecken, das, was eben politisch ist an Pisa, bewusst zu machen und sich nicht auf das Spiel einzulassen, zu sagen: Das sind die nackten Daten, die sagen mir schon, was ich machen muss. Das tun sie nicht, und sie lassen immer noch sehr viel Spielraum, den man wieder in den Vordergrund rücken muss. Am Ende ist auch die Frage, worin man politisch investieren will: in noch mehr Datenproduktionen oder in Schulgebäude und Lehrkräfte. (Lisa Nimmervoll, 30.4.2018)