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Gino Bartali 1953, im letzten Jahr seiner Karriere als Radprofi. Der Toskaner musste wegen einer schweren Beinverletzung aufhören.

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Wenn am Freitag der Giro d'Italia zum ersten Mal außerhalb Europas beginnt, die erste Etappe der 101. Auflage in Jerusalem über die Bühne geht, fährt die Symbolik mit. Die Veranstalter haben schon in der Streckenplanung versucht, das Sportliche ganz in den Mittelpunkt zu stellen. Ostjerusalem, also auch die Altstadt, wo heilige Stätten des Islam, des Christen- und des Judentums auf wenigen Quadratkilometern konzentriert sind, wird aufgrund seines umstrittenen Status gemieden.

Doch auch im Westen der Stadt, wo das rund zehn Kilometer lange Einzelzeitfahren stattfindet, gibt es politische Symbole. So passieren die 176 Radprofis auch Yad Vashem. Dort wird nicht nur der Millionen Juden gedacht, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordet wurden, es ist auch eine Stätte der Erinnerung an jene Nichtjuden, die sich gegen das Nazi-Regime und andere faschistische Regime auflehnten, Menschen, die sich nicht am Massenmord und am kollektiven Wegschauen beteiligten, sondern als "Gerechte unter den Völkern" versuchten, jüdische Mitmenschen vor Verfolgung und Deportation zu schützen. Wer unter persönlichem Risiko Juden in einer bezeugten Aktion ohne Gegenleistung zu retten versuchte, wird nach sorgfältiger Untersuchung in diesen Kreis aufgenommen.

Unter den fast 30.000 "Gerechten" findet sich auch ein Vorbild zahlreicher Radsportler. Der italienische Nationalheld Gino Bartali, "Il Pio" (Der Fromme) genannt, gilt als einer der besten Bergfahrer der Geschichte. Die diesjährige Startetappe des Giro wird ihm zu Ehren ausgetragen.

Das Ausnahmetalent Bartali wurde 1914 nahe Florenz geboren. Der tiefgläubige Katholik gewann dreimal den Giro (1936, 1937, 1946), zweimal die Tour de France (1938 und 1948) und etliche Eintagesklassiker. Der Krieg kostete ihn die besten Jahre als Sportler. Mit dem fünfmaligen Giro-Sieger Fausto Coppi, der um fünf Jahre jünger war, verband ihn eine der legendärsten Rivalitäten der Sportgeschichte. Noch heute sind die italienischen Fans in "Coppisti" und "Bartalisti" gespalten, in Wahrheit verstanden sich die Kontrahenten aber gut. Das Foto von der Tour de France 1952, auf dem zu sehen ist, wie sie einander während der Auffahrt zum Col du Galibier eine Wasserflasche reichen – eine Nachstellung des Ereignisses vom Vortag, wie sich später herausstellte -, gilt als eines der ikonischsten der Radsportgeschichte.

Der Sportheld Bartali war aber auch menschlich eine Ausnahmeerscheinung.

800 Gerettete

Während des Krieges wurde der Toskaner, selbst Laienbruder im Karmeliterorden, vom florentinischen Erzbischof Elia Dalla Costa gebeten, sich dem katholisch-jüdischen Widerstand anzuschließen. 1943, nach dem Zerfall des Hitler-Mussolini-Paktes und nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, wurden Juden zusehends auch in Italien systematisch verfolgt und deportiert.

Dem beliebten und allseits bekannten Bartali kam im Widerstand die Rolle des Fahrradkuriers zu. Er schmuggelte Passfotos und Dokumente meist zwischen Florenz, Assisi, Genua und Rom, oft über mehrere Hundert Kilometer, um Juden neue Identitäten ausstellen zu können. Seine langen Ausflüge fielen nicht auf – der Radstar musste sich schließlich fit halten, ein Ende des Krieges war bereits abzusehen.

Bartali wurde selten kontrolliert – und wenn doch, vermochte er es immer wieder geschickt zu vereiteln, dass die Polizisten seinen Sattel oder die Lenkergabel abmontierten, wo er die Dokumente versteckt hatte. Dennoch kam auch er gelegentlich unter Beschuss.

Bartali versteckte zudem eine jüdische Familie bei sich und soll einmal mehrere Flüchtlinge in einem Anhänger über die Grenze in den Schweizer Alpen geschmuggelt haben – per Rad, zu "Trainingszwecken" natürlich. Rund 800 Juden soll "Il Pio" durch seine Aktionen vor dem sicheren Tod gerettet haben.

"Ginettaccio" (Gino der Schreckliche), wie er wegen seiner Zermürbungstaktik bei Bergetappen auch genannt wurde, erzählte später nur seinem Sohn Andrea von einigen Aktionen im Widerstand – und dieser musste versprechen, bis zum Tod des Vaters zu schweigen.

Gino Bartali starb am 5. Mai 2000 in seiner Heimatstadt Florenz an den Folgen eines Herzinfarkts. Sohn Andrea Bartali sagte 2013 bei dessen posthumer Aufnahme in Yad Vashem anlässlich der Rad-WM in Florenz, dass sein Vater stets nur für seine sportlichen Taten berühmt sein wollte. Wenn die Menschen ihn als Helden feierten, habe er stets gesagt: "Wirkliche Helden sind andere – diejenigen, die in ihrer Seele gelitten haben, in ihrem Herzen, in ihrem Geist, in ihren Gedanken, für ihre Lieben. Das sind die wahren Helden. Ich bin nur ein Radfahrer." (Fabian Sommavilla aus Jerusalem, 3.5.2018)