Luísa und Salvador Sobral beim Song-Contest-Sieg 2018 in Kiew.

Foto: Andres Putting (EBU)

Frühe Song-Contest-Beiträge als Sammlerstücke auf einem Plattenflohmarkt in Lissabon. Eine Single ist für 100 Euro aufwärts zu haben.

Foto: Marco Schreuder

1964 regierte António de Oliveira Salazar bereits seit 32 Jahren das Land. Er kam in einer Militärdiktatur an die Macht und setzte das Einparteiensystem, das sogenannte Estado Novo, als autoritärer Diktator in Portugal mit eiserner Hand durch. Im Zweiten Weltkrieg hielt er Distanz sowohl zu den Nationalsozialisten als auch zu den Alliierten. So blieb er auch nach dem Krieg an der Macht und setzte auf eine außenpolitisch prowestliche Politik. Portugal wurde etwa Gründungsmitglied der Nato, der Uno, der Efta, und seit 1950 war der Staatssender RTP auch Mitglied der European Broadcasting Union (EBU), die für den Eurovision Song Contest verantwortlich ist. Das Regime setzte aber seine ausgesprochen isolationistische Politik fort.

So wundert es nicht, dass Portugal in den Anfangsjahren des Song Contests fehlte und zwischen 1956 und 1963 nicht teilnahm. Doch 1964 entschloss sich der RTP, einen Vertreter nach Kopenhagen zu schicken. Dafür wurde eine nationale Vorausscheidung ins Leben gerufen. Das Festival da Canção gibt es bis heute, es ist eine der traditionsreichsten Vorausscheidungen der Eurovisions-Geschichte. Der Siegersong "Oração" von António Calvário debütierte allerdings eher kläglich und wurde letzter mit null Punkten. Ein derartiges Debüt-Desaster sollte erst Litauen 1994 wieder schaffen.

Der erfolglose Song bei der ersten Teilnahme symbolisiert aber einen Zug, den portugiesische Songs größtenteils innehaben – bis heute. Saudade, das unübersetzbare Wort voller Weltschmerz und Sehnsucht, dominiert mit wenigen Ausnahmen. Die Texte, die Emotionen und die Poesie werden fast ausschließlich von Portugiesen verstanden, Europa sieht vielleicht interessiert, aber größtenteils ratlos zu. Auch in den Jahren darauf landete Portugal auf den hinteren Plätzen, obwohl der Staatssender mit Simone de Oliveira und Madalena Iglésias Künstlerinnen zum Bewerb schickte, die danach national durchaus erfolgreich waren.

1967 überrascht Portugal mit dem Auftritt eines Angolaners in der Wiener Hofburg. Eduardo Nascimento begeistert bis heute mit seinem unglaublichen Timbre und Kraft in seinem Song "O vento mudou". Aber auch er wird nur Zwölfter und hatte gegen Sandie Shaw und Vicky Leandros keine Chance.

Eduardo Nascimento mit "O vento mudou" 1967 in der Wiener Hofburg. Ein Jahr später beendete er seine Karriere und kehrte 1969 nach Angola zurück, wo er heute noch 74-jährig lebt.
Eurovision Portugal

Linke Songs am Ende der rechten Diktatur

Diktator Salazar musste 1968 nach einem Schlaganfall zurücktreten, und Marcelo Caetano übernahm das Ruder im Staat. Er setzte zwar die repressive Politik gegen den Kommunismus und gegen die Aufstände in den Kolonien fort, war aber alles in allem deutlich liberaler als sein Vorgänger. Dies spiegelte sich auch in den Liedern zum Song Contest wider. Linke Texte und linke Liedermacher konnten sich in Songs verwirklichen, die beim Festival da Canção präsentiert wurden.

Besonders die höchst politischen Songs der Jahre 1969, 1971 und 1973 sind in diesem Zusammenhang zu nennen. "Desfolhada portuguesa", gesungen von Simone de Oliveira, "Menina do alto da serra", gesungen von Tonicha, und "Tourada", gesungen von Fernando Tordo, wurden allesamt von Ary dos Santos geschrieben, der in Portugal einer der wichtigsten Poeten des 20. Jahrhunderts ist und Mitglied der kommunistischen Partei war. Zudem lebte dos Santos offen schwul – zu dieser Zeit äußerst ungewöhnlich, nicht nur in Portugal.

"Tourada" von Fernando Tordo war ein äußerst politischer Song, geschrieben vom Kommunisten und offen schwul lebenden Poeten Ary dos Santos. Der Song erreichte beim ESC in Luxemburg den zehnten Platz.
Eurovision Portugal

Ein Eurovision-Song-Contest-Song startet die Nelkenrevolution

Wenn man den Song Contest 1974 in Brighton erwähnt, gibt es vor allem eine Assoziation: Abba und "Waterloo" – politisch gesehen hat aber der portugiesische Beitrag eine größere Bedeutung gespielt. Als die linke Militäreinheit Movimento das Forças Armadas den Putsch gegen die Diktatur plante, war eines der verabredete Zeichen für den Staatsstreich der Radioeinsatz des Liedes "E depois do adeus" ("Und nach dem Abschied") von Paulo de Carvalho, dem Eurovision-Song-Contest-Beitrag des Jahres. Für Europa war der Song relativ bedeutungslos und erreichte nur den 14. Platz. In Portugal aber half er, eine Diktatur zu beenden. Am 24. April 1974 um 22.55 Uhr begann damit die Nelkenrevolution.

"E depois do adeus" startete die Nelkenrevolution 1974. Dieses Video zeigt Bilder des Staatsstreichs und hat diese mit dem ESC-Beitrag von 1974 unterlegt.
Horta do Zorate

Einer der Offiziere der Nelkenrevolution hieß Duarte Mendes, der auch als Sänger bekannt war und bereits in den frühen Siebzigern mehrmals beim Festival da Canção teilnahm. 1975 konnte er die Revolution beim Song Contest in Stockholm mit dem Song "Madrugada" feiern. "Ich singe über die Menschen, die gerade sich selbst gefunden haben, die ihre Stimmen erheben und nun feiern" wurde in Portugal sofort verstanden. Die europäische Jury ließ das Lied eher kalt, und es landete nur auf dem 16. Platz.

Duarte Mendes singt den Beitrag "Madrugada" bei der portugiesischen Vorausscheidung Festival da Canção 1975 und feiert die Revolution von 1974 mit roter Nelke am Revers.
RTP

Viele Teilnahmen, wenig Erfolg

Die Demokratisierung hatte zur Folge, dass der portugiesische Weltschmerz sich wieder auf den Themenkreis Liebe – meistens natürlich eine verlorene oder unerreichte – konzentrierte, das Politische spielte weniger eine Rolle – mit sehr wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel der sehr merkwürdigen Glorifizierung des Kolonialismus 1986 ("Conquistador"). Immerhin konnte Portugal 1979 einen neunten und 1980 sogar einen siebenten Platz erreichen. Dieser Platz sollte bis 1996 der bestplatzierte Beitrag Portugals bleiben. José Cid hatte im Song "Um grande, grande amor" die fröhliche Botschaft, dass die Liebe so frei sei wie ein Vogel, ja sie sogar über die Berliner Mauer fliegen kann.

Der sechste Platz 1996 von Lúcia Moniz mit "O meu coração não tem cor" feierte den Tanz. Auch in diesem Song fanden sich viele Reminiszenzen an die portugiesische Kultur samt den Kolonien: "Wir tanzen den Samba, den Marrabenta ebenso, wir weinen den Fado und rollen den Coladeira". Nur in diesen Textzeilen werden neben Portugal auch indirekt die ehemaligen Überseegebiete Brasilien, Mosambik und Kap Verde erwähnt.

"O meu coração não tem cor" blieb bis 2017 der erfolgreichste portugiesische Beitrag.
schluckauf

Durststrecke bis zum Sieg 2017

2004 wurde beim Song Contest erstmals ein Semifinale, ab 2008 sogar zwei eingeführt. Dies hatte zur Folge, dass Portugal sich nur dreimal für das Finale qualifizieren konnte und achtmal ausschied. Der Beitrag des Jahres 2008, "Senhora do mar" von Vânia Fernandes aus Madeira, war der erfolgreichste Song, erreichte aber auch nur den 13. Platz, wurde aber immerhin ein Fan-Favorit, den ESC-Aficionados bis heute gerne hören.

2017 sollte dann das große Jahr Portugals werden. Salvador Sobral konnte zuerst gar nicht zum Eurovision Song Contest nach Kiew kommen, da er statt bei den Proben im Spital sein musste. Der Grund wurde geheim gehalten. In Kiew behaupteten zahlreiche böse Zungen, es handle sich nur um einen PR-Gag. Seine Schwester sang in den Proben den von ihr geschriebenen Song, Salvador Sobral kam gerade noch rechtzeitig, sang – und siegte. "Amar pelos dois" überzeugte so gewaltig, dass es der höchste Sieg in der Geschichte des Eurovision Song Contests wurde. Kurz danach musste er wieder ins Krankenhaus, wartete auf ein neues Herz und überlebte schlussendlich die Transplantation.

Bei seinem Heim-Song-Contest 2018 wird Sobral mit dem berühmten brasilianischen Sänger, Liedermacher und Komponisten Caetano Veloso auftreten.

Der Siegersong aus Kiew 2017: Salvador Sobral mit "Amar pelos dois".
Eurovision Song Contest

Der portugiesische Beitrag 2018

2018 muss Portugal nicht in einem Semifinale zittern, sondern darf als Titelverteidiger direkt im Finale am 12. Mai antreten. Der Song "O jardim" von Cláudia Pascoal ist wieder einmal typisch portugiesisch. Ungewöhnlich, poetisch, leise, nicht marktschreierisch und ohne Effekthascherei. Ob Europa die portugiesische Art des Songs im Jahr eins nach Salvador Sobral besser verstehen wird?

Portugal setzt auch 2018 auf leisere Töne ohne Bombast. Cláudia Pascoal wird mit "O jardim" (Im Garten) den Titel zu verteidigen versuchen.
Eurovision Song Contest

(Marco Schreuder, 3.5.2018)