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Auf den Schild gehoben: Muharrem İnce, Rechtsausleger in der sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionspartei CHP, tritt bei der Präsidentenwahl in der Türkei gegen Amtsinhaber Tayyip Erdoğan an.

Reuters / Ümit Bektas

Nach der Wahl zum Freitagsgebet, dann ein Besuch im ersten Parlament der Türkei auf dem Ulus-Platz in Ankara und bei den Altvorderen – Ex-Parteichef Deniz Baykal und Ex-Präsident Ahmet Necdet Sezer (2000–2007). Der Kandidat der größten Oppositionspartei in der Türkei macht alles ganz nach Buch: Muharrem İnce ist ein Kemalist, ein stramm nationalistischer Anhänger des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, nicht so sehr der Wortführer einer sozialdemokratisch orientierten Partei nach europäischem Vorbild.

In diese Richtung versuchte der Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu die Republikanische Volkspartei (CHP) jahrelang zu schieben. Jetzt ließ er seinem innerparteilichen Rivalen den Vortritt. İnce ist der Kandidat für die Präsidentenwahl am 24. Juni, einer der Herausforderer des Staatschefs Tayyip Erdoğan.

Starke Rivalin

Und nicht unbedingt der chancenreichste. Der 54-Jährige – seine Nominierung am Freitag in Ankara fiel zugleich auf seinen Geburtstag – konkurriert auch mit Meral Akşener, einer ehemaligen kurzzeitigen Innenministerin in den 1990er-Jahren und der Vorsitzenden der neuen Guten Partei (İyi Partisi). Akşener sammelt die konservativen Nationalisten unter den Wählern. Das ist wohl die größte Schnittmenge im politischen Spektrum der Türkei. Akşener und İnce versuchen beide, Erdoğan in eine Stichwahl am 8. Juli zu zwingen. Wer hierbei besser platziert ist – die "eiserne Lady" oder der raubeinig auftretende rechte Kemalist –, ist noch offen.

25-Prozent-Turm

Gegen die alte Staatspartei CHP gibt es eine gewisse Allergie in der türkischen Wählerschaft. Die Partei gilt trotz Modernisierungsversuchen immer noch als verstaubt, vor allem aber als politisch unscharf: ein bisschen links, ein bisschen rechts, ein wenig kurdenfreundlich, dann doch wieder altbacken kemalistisch. Das alles hat die CHP in den vergangenen Jahren im Turm von 25 Prozent der Stimmen gehalten.

Ob Muharrem İnce das allein mit seinem Mundwerk und seiner Freude an Tanzeinlagen ändern kann, ist fraglich. Der Physiklehrer aus Yalova am Marmarameer hat aber zweifellos ein populistisches Naturell, das dem eher feinsinnigen Parteichef Kılıçdaroğlu fehlt. "İnce" bedeutet dabei im Türkischen eben das – fein, zart, dünn, genau.

Kuşulular Haber

"Jedem ist klar, dass diese Leute Geld stehlen", sagte İnce 2014 vor den Kommunalwahlen über die Erdoğan-Regierung und deren konservativ-islamische Partei. "Wenn die AKP 49 Prozent bekommt, höre ich mit der Politik auf. Da bleibt einem nichts anderes übrig. Ich gehe Hühner füttern." Erdoğans AKP kam landesweit auf 42,87 Prozent – ein Plus von 4,5 Prozentpunkten –, und Muharrem İnce musste nicht zurück auf den Bauernhof. Er hatte die Latte wohlweislich hoch genug angesetzt.

Favorit für die Parteiübernahme

Seit bald 20 Jahren ist er nun Parlamentsabgeordneter. Als Fraktionschef der CHP ging er die AKP des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan oft hart an. Seinen eigenen Parteichef forderte er zweimal heraus und unterlag. Dennoch gilt als sicher, dass İnce die CHP übernehmen wird – sofern er bei der Präsidentenwahl nicht völlig untergeht. Auf Twitter wurde am Freitag in der Türkei sofort gereimt: #İncedenDemokrasiGelecek – von İnce wird die Demokratie kommen. (Markus Bernath, 4.5.2018)