Die Favoritenrolle beim diesjährigen Eurovision Song Contest ist im Vorfeld recht deutlich vergeben: Israels Netta mit "Toy" führt die Wettquoten mit überwältigendem Vorsprung an, die Fanclub-Wertungen sehen sie vorne, in TV-Vorschauen gewinnt sie haushoch. Die Eurovision-Queen 2018 scheint schon festzustehen. Oder doch nicht?

Die Altice Arena in Lissabon, wo der diesjährige Eurovision Song Contest über die Bühne geht.
Foto: Marco Schreuder

Italiens Francesco Gabbani, der voriges Jahr mit denselben Vorschusslorbeeren und seinem Song "Occidentali's Karma" nach Kiew reiste, um schlussendlich doch nur den sechsten Platz zu erreichen, darf als warnendes Beispiel dienen. Bulgarien, Tschechen, Norwegen, Frankreich und Estland werden ebenfalls als Favoriten gehandelt und spielen bei den Wettquoten vorne mit.

Für alle Teilnehmer stellt die Bühne in Lissabon zudem eine neue Herausforderung dar. Dieses Jahr gibt es keine große LED-Wand und nicht viel Schnickschnack. Also heißt es, Props und Gimmicks entweder selbst mitzunehmen oder sich auf anderem Weg ein originelles Staging zu überlegen.

Favoriten

Tschechien als Sieger wäre eine Riesenüberraschung. Das Land hat bei sechs Teilnahmen nur ein einziges Mal das Finale erreicht, um dort dann 2016 Vorletzter zu werden. Mikolas Josef, vorwiegend in Wien mit dem Produzenten Nikodem Milewski arbeitend, könnte für unseren Nachbarn eine Wende schaffen. Der Song Contest war bisher in Prag nicht besonders populär. Das könnte sich jetzt ändern. In der ersten Probe geschah allerdings ein Unglück. Der erst 22-jährige Sänger verletzte sich schwer am Rücken und konnte zeitweise nicht einmal mehr gehen. Glücklicherweise ist er mittlerweile wieder auf den Beinen. Seine akrobatischen Pläne muss er aber reduzieren.

Der Tscheche Mikolas Josef, der den Eurovision Song Contest 2019 nach Prag bringen will.
Eurovision Song Contest

Bulgarien mit seinem für den Wettbewerb zusammengezimmerten Kollektiv namens Equinox überzeugt stimmlich sehr, die Bühnenperformance bleibt dabei sehr schlicht, manche meinen, zu schlicht. Ich persönlich halte sie für die größte Gefahr für Netta.

Der Niederländer Waylon, der als eine Hälfte der Common Linnets in Kopenhagen 2014 hinter Conchita den zweiten Platz erreichen konnte, kam als ein Mitfavorit nach Lissabon, sticht doch sein Country-Rock deutlich heraus. Doch die Performance sah in den Proben deplatziert aus. Ihn kann man wohl aus dem Favoritenkreis wieder entfernen. Dafür darf man Ungarns AWS hinzufügen, die Metal songocontestfähig machen wollen. Und das gelingt ihnen ausgesprochen gut – samt Stagediving.

Bei den Wettquoten noch weit hinten, aber nicht zu unterschätzen: die Metal-Band AWS, die für Ungarn antritt.
Eurovision Song Contest

Netta mit ihrem "Toy" bleibt aber vorerst Favoritin. Sie ist stimmgewaltig, weiß als Rampensau mit dem Publikum zu kommunizieren und hat mit ihrer feministischen Aussage eine klare Message ("I'm not your toy, stupid boy!"). Überraschenderweise verzichtet sie auf den Voice Looper und lässt die Stimmspielchen und das Huhngegackere von echten Stimmen machen. Ob sie auch beim Semifinale am 8. Mai und im großen Finale am 12. Mai noch Favoritin ist, werden wir erst sehen.

Die große Favoritin für den Sieg aus Israel: Netta Barzilai mit "Toy", einer Empowerment-Hymne für Frauen, die sich nicht alles gefallen lassen sollen.
Eurovision Song Contest

Österreich und andere Dark Horses

Und dann gibt es wie jedes Jahr die Außenseiter, die man noch gar nicht einschätzen kann. Diejenigen, die man vor dem Bewerb nicht auf der Rechnung hatte, aber ganz hervorragende Proben abliefern – sei es stimmlich, sei es in der Originalität der Darbietung. Moldau, Albanien, Rumänien, Zypern, Estland und auch Österreich sind hier zu nennen.

Cesár Sampson, der für Österreich mit "Nobody But You" antritt, weiß in den Proben viele Fans und Journalisten zu überzeugen, sowohl mit seinem Auftritt als auch stimmlich. Es passt alles hervorragend zusammen, und er darf zuversichtlich sein, auch im schwierigsten Semifinale aller Zeiten den Einzug ins Finale zu schaffen. Cesár steht bei seiner Performance auf einer Plattform hoch über dem Publikum, bis er langsam hinunterkommt, sich nach und nach dem Publikum nähert und der eindringliche Song sich vollends entfaltet.

Der österreichische Beitrag: Cesár Sampson mit "Nobody But You" mit intakten Finalchancen.
Eurovision Song Contest

Was sagen internationale Journalisten?

Doch was sagen die Fans und Journalisten nach den ersten Proben (zu diesem Zeitpunkt, noch ohne die ersten Bühnenversuche der Big Five Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien sowie des Titelverteidigers Portugal gesehen zu haben)? Wir haben uns umgehört:

Foto: Alkis Vlassakakis

Katja Zwart (Niederlande, NH Radio)

"Es ist sehr schwierig. Alle reden über Israel, aber ich bin noch nicht überzeugt. Ich vermisse noch die Kraft, die man im Video spürt. Ich warte ja noch auf den italienischen Auftritt. Der Beitrag war im Vorfeld mein liebster. Mein Guilty Pleasure ist aber Schweden, der macht mich glücklich. Tschechien finde ich auch sehr gut."

Foto: Screenshot Wiwibloggs YouTube Channel

Deban Aderemi (Großbritannien, wiwibloggs)

"So viele Länder haben sich durch ihre Bühneninszenierung verbessert. Mir gefallen jetzt Beiträge, die ich zuvor nicht so gut fand. Das erste Semifinale wird ein Totentanz. Es werden Favoriten sterben, und es wird hässlich. Österreich ragt für mich besonders heraus. Israel natürlich auch."

Foto: Alkis Vlassakakis

Nina Pinto (Pressechefin der portugiesischen Delegation, Teilnehmerin an der portugiesischen Vorausscheidung 2010)

"Ich glaube, es ist einer der besten Song Contests überhaupt. Voriges Jahr hatte ich zwei, drei Songs als Favoriten, dieses Jahr sind es so viele, dass ich wirklich nicht mehr weiß, wer das gewinnen soll. Mir persönlich gefallen Bulgarien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Israel und Spanien sehr gut."

Foto: Alkis Vlassakakis

Anastasiia Serkina (Russland, GTRK Mordovia)

"Die Proben waren atemberaubend gut. Der Lichteinsatz gefällt mir zwar noch nicht immer, aber ich denke, dass sie das noch in den Griff bekommen. Mein Favorit ist Bulgarien. Als ich den Song zum ersten Mal hörte, war ich sofort verliebt."

Foto: Alkis Vlassakakis

Sanjay Sergio Jiandani (Indien/Spanien, ESC Today)

"Ich persönlich mag Zypern sehr gerne. Estland gefällt mir auch gut, gewettet habe ich aber auf Norwegen."

Foto: Alkis Vlassakakis

Irving Benoît "Dr. Eurovision" Wolther (Deutschland, Autor von "Die ganze Welt des Song Contests", eurovision.de)

"Der Wegfall der LED-Wände hat einen enormen Kreativitätsschub bei den Delegationen ausgelöst. Wir werden eine sehr unterhaltsame Show erleben. Ungarn ist ganz großartig. Obwohl ich mit solcher Musik sonst nichts anfangen kann, geht mir der Song wirklich unter die Haut."

Foto: Alkis Vlassakakis

Michael Poh (Australien, Joy Radio)

"Das erste Semifinale wird ein Blutbad. Favoritin Netta kann in ihrem Semifinale ja nur noch verlieren. Im zweiten wird es eher interessant, ob die Favoriten es wirklich ins Finale schaffen. Die haben in den Proben nämlich weniger überzeugt, die Außenseiter fielen deutlich mehr auf. Mein persönlicher Favorit ist natürlich Australien, aber gut, das darf ich nicht sagen. Ich mag Schweden, Polen, Israel und Litauen." (Marco Schreuder, 4.5.2018)