Außenministerin Karin Kneissl auf ihrer denkwürdigen Moskau-Reise. Sergej Lawrow lehnte Österreichs Vermittler-Ambitionen brüsk ab.

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Um den Abzug der alliierten Truppen zu erreichen und die volle Souveränität wiederherzustellen, entschied sich Österreich 1955 für den Status eines ständig neutralen Landes. Auf der Suche nach einer neuen Identität für ein von der Geschichte geprügeltes Land wurde die Neutralität aber schon bald danach zu einer Art Staatsreligion erhoben. Zu ihren schon in den Volksschulen verbreiteten Glaubenssätzen zählte lange Zeit die Annahme, dass Neutralität eine moralisch höherwertige Außenpolitik darstellt. Die pazifistische Grundhaltung einer durch zwei Weltkriege traumatisierten Bevölkerung verband sich mit der Kritik am Wettrüsten zur Überzeugung, dass Militärbündnisse gefährliche Institutionen seien, die Europa in einen weiteren Konflikt hineinzuziehen drohten. Ein weiteres mit großem Eifer verbreitetes Dogma war die Vorstellung, dass Österreich aufgrund seines neutralen Status, als Ort internationaler Begegnungen, durch Vermittlungsbemühungen sowie Beteiligung an friedenserhaltenden Einsätzen von allen Seiten geschätzt wird.

Geprägt von diesen Überzeugungen erlebten viele junge Österreicher bei Auslandsaufenthalten mit Verwunderung, dass sich diese Innenansicht der Neutralität deutlich von der Sicht von außen abhob. Das offizielle westliche Ausland beurteilte zwar manchen außenpolitischen Beitrag Österreichs positiv. Die Vorstellung von der höheren moralischen Qualität des österreichischen Status traf jedoch auf Unverständnis. Auch wenn Gesprächspartner vielfach die geopolitischen Grundlagen des neutralen Status einsahen, war man doch immer wieder mit der Meinung konfrontiert, dass letztlich auch die Freiheit und Sicherheit Österreichs der Stärke der westlichen Allianz zu verdanken waren. Manchmal ging das bis zum Vorwurf mangelnder Solidarität und Trittbrettfahrerei. Dieses Auseinanderklaffen von Innenperzeption und Außenperspektive mag einzelne Österreicher nachdenklich gestimmt haben, die neutrale Staatsdoktrin war aber gefestigt genug, um diese Kritik abschütteln zu können.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor das Dogma von der moralischen Überlegenheit der Neutralität an Plausibilität. Die Kriegsgefahr schwand, die meisten Mitglieder des Warschauer Pakts traten der Nato bei; vom westlichen Randstaat wurde Österreich zur Nato-Enklave. Trotz dieser fundamentalen Umwälzungen der sicherheitspolitischen Strukturen Europas stellte keine österreichische Regierung den im kollektiven Bewusstsein fest verankerten neutralen Status ernsthaft infrage. Dafür wurde die nun möglich gewordene Mitgliedschaft in der EU konsequent angestrebt. Um die zukünftigen Partner zu überzeugen, dass der neutrale Status die Solidarität im Rahmen der EU nicht behindern würde, passte Österreich auch den rechtlichen Gehalt der Neutralität an.

In den sicherheitspolitischen Konzepten der ersten zehn Jahre der Mitgliedschaft war dann auch von Neutralität wenig zu lesen. Österreich bekannte sich zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Richtung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, beteiligte sich an EU-Militäreinsätzen und – teilweise etwas widerstrebend – an EU-Wirtschaftssanktionen. Es schien sich zu einem normalen EU-Mitglied zu entwickeln.

Brückenbauerzeiten ...

Dieser Normalisierungsprozess wird nun durch die türkis-blaue Regierung infrage gestellt. Das Regierungsprogramm enthält ein deutliches Bekenntnis zur "identitätsstiftenden" Rolle der Neutralität. Österreich würde als "Drehscheibe zwischen Ost und West" eine "Entspannungspolitik zwischen dem Westen und Russland" betreiben, Formulierungen, die seltsam an die 70er- und 80er-Jahre erinnern. Die außenpolitische Praxis folgte dann auch dem Programm: Als viele EU-Länder nach dem Giftanschlag von Salisbury russische Diplomaten auswiesen, gehörte Österreich zu einer kleinen Minderheit, die einen derartigen Schritt ausschloss. Als Begründung erklärten Bundeskanzler und Außenministerin, dass Österreich als neutrales Land und "Brückenbauer zwischen Ost und West" gerade in schwierigen Zeiten die Gesprächskanäle nach Russland offen halten möchte.

Dass ausgerechnet jene Parteien diese Rückwendung zur Neutralität initiierten, die in der Vergangenheit wiederholt mit dem Nato-Beitritt liebäugelten, mag verwundern. Ausschlaggebend war dafür wohl der Wunsch, die guten und von wirtschaftlichen Interessen unterfütterten Beziehungen zwischen Wien und Moskau vor einer Beschädigung durch die Spannungen zwischen dem Westen und Russland zu bewahren.

... sind vorbei

Angesichts der Annexion der Krim und der russischen Aggression auf dem Donbass konnte sich das EU-Mitglied Österreich zwar nicht der Verurteilung und Sanktionierung des russischen Vorgehens entziehen. Durch die Einladung Wladimir Putins nach Wien mitten in der Ukraine-Krise, durch ständige Kritik an der Sinnhaftigkeit der Sanktionen und durch wiederholte Versuche, die österreichische Neutralität als Lösungsmodell für den Ukraine-Konflikt zu präsentieren, hob sich Österreich jedoch auch schon bisher deutlich vom Mainstream der westlichen Staaten ab.

Die von der neuen Regierung betriebene Rückbesinnung auf die Neutralität bietet nun die ideologische Rechtfertigung für einen österreichischen Sonderweg, der sich rasch als Holzweg erweisen dürfte. Die brüske Ablehnung des von der österreichischen Außenministerin überbrachten Vermittlungsangebots durch Außenminister Lawrow zeigte deutlich, dass die Zeit für neutrale Brückenbauaktivitäten vorbei ist. Wie diese Episode demonstrierte, sieht Russland Österreich in erster Linie als Mitglied der EU. Umso wichtiger, dass auch Österreich diese Tatsache in das Zentrum seiner Außenpolitik stellt. Angesichts der vielfältigen Bedrohungen in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas und der erratischen Aktionen der Trump-Administration war europäische Solidarität nie so gefordert wie heute. Nostalgie ist ein hervorragendes Mittel zur Tourismus-Förderung. In der Außenpolitik hat sie nichts verloren. (Stefan Lehne, 4.5.2018)