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14. Mai 2017: Emmanuel Macron wird als französischer Präsident angelobt.

Foto: Reuters / Charles Platiau

Emmanuel Macron verursacht seinen Landsleuten immer noch einen leichten Schwindel – oder einen Geschwindigkeitsrausch, je nach Betrachtungsweise. Das geht nun schon ein Jahr so – und es begann am 7. Mai 2017. Damals sahen die Franzosen einen frisch gekürten Präsidenten von gerade 39 Jahren, der zu Beethovens "Ode an die Freude" sehr feierlich durch den Louvre-Hof schritt und sich dann effektvoll vor die Museumspyramide stellte, um das Volk zu grüßen.

Eine Woche später, kaum im Élysée-Palast angelangt, schaltete der Präsident den Turbo ein, lancierte binnen weniger Wochen mehr Reformen, als Vorgänger Jacques Chirac in zwölf Jahren zustande gebracht hatte. Durch das jahrtausendealte Frankreich, den verknöcherten Zentralstaat, der von weihevollen Patriarchen wie Charles de Gaulle oder François Mitterrand dirigiert worden war, braust ein TGV.

Daran gewöhnten sich die Franzosen fast ebenso schnell. Auch dass der Jungpräsident im Élysée in aller Selbstverständlichkeit mit einer 65-jährigen Frau zusammenlebt. Oder dass er in seinen Reden antiquierte Worte wie " galimatias" (Gefasel), "carabistouille" (Albernheit) oder "perlimpinpin" (Wundermittel) verwendet. Sie staunten kaum mehr, als er Donald Trump mit eisernem Handshake bezwang; und sie wunderten sich nicht, als er im Élysée im privaten Kreis Peter und der Wolf von Prokofjew inszenierte, so wie es die Könige in Versailles mit Molières Komödien getan hatten. Und so wie es seine ehemalige Lehrerin Brigitte dem damals 15-Jährigen beigebracht hatte.

Renaissance in Progress

Die Zeitschrift Obs verglich ihn darauf mit dem florentinischen Renaissance-Modell Lorenzo de Medici, genannt der Herrliche. Macron bevorzugt aus jener Epoche den Begriff der kopernikanischen Wende, um Frankreichs Umbruch zu beschreiben. Festgefügte Codes der Fünften Republik wirft er über den Haufen: Statt dem Staatssender France 2 ehrfürchtig geführte Interviews zu gewähren, lässt sich der Jungreformer auf echte Streitgespräche auf privaten News-Portalen ein. Das angestammte Büro der Presseagentur im Élysée-Palast lagerte er in eine Dependance aus: Der Präsident will in seinen vier Wänden Ruhe vor Journalisten haben.

Auch dem seit einem Jahrhundert gültigen und sakrosanten Eisenbahnerstatut (50 Urlaubstage, Pensionierung mit 52 Jahren, lebenslange Jobgarantie) sagt Macron den Kampf an. Von Brüssel bis Berlin applaudiert man dem "europäischen Visionär" (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn ohne sichtbare Ironie gar eine "Gottheit".

Die Franzosen sehen das nach einem Jahr etwas pragmatischer – vielleicht weil sie näher an dem Phänomen E. M. dran sind. Als Macron dem Vogesen-Städtchen Saint-Dié jüngst die Aufwartung machte, skandierten aufgebrachte Bürger: "Präsident der Reichen!" So tönt es im Land, seit Macron die Teilabschaffung der Vermögenssteuer (außer Immobilienbesitz) angekündigt hat – und eine Steuerreform, die zuerst die Pensionisten trifft.

Macron argumentiert vergeblich, dass die Pensionen in Frankreich trotzdem höher als in Deutschland oder Großbritannien blieben. Die Linke wirft ihm Verrat vor, bezichtigt ihn der Rechtsabdrift. Die anstehende Verschärfung des Asylrechts sorgt bis in seine Mittepartei La République en Marche (LRM) für böses Blut. All die Sozialisten, die bei der Präsidentschaftswahl 2017 zu Macron übergelaufen sind, stürzen sich wieder auf die Memoiren des Vorgängers François Hollande. Der schreibt bitterböse über Macron: "Er spielt Präsident."

Biegsam und unbeirrbar

Die Mehrheit der Franzosen hält laut Umfragen weiterhin zu Macron, würde ihn heute gar mit noch größerer Mehrheit als vor einem Jahr wählen. In Saint-Dié riefen etwa mehrere Zaungäste: "Tenez bon!" – "Halten Sie stand!" Da mag die Einsicht vieler Bürger mitspielen, dass ihr Land wirklich einen Neuanfang braucht. Die Franzosen schätzen zudem, dass der Präsident seine Wahlversprechen einhält. Macron selbst hat seit seiner Jugendzeit nur Präsidenten – Chirac, Sarkozy, Hollande – erlebt, die ihr Programm vergaßen, wenn sie einmal im Élysée-Palast waren. Er weiß, dass seine Landsleute darauf allergisch reagieren. Deshalb hält er unbeirrt an seiner Bahnreform fest, so wie er im Herbst seine Arbeitsmarktreform durchgedrückt hat.

Macron geht allerdings oft nicht bis zum bitteren Ende. Die Bahnreform etwa schafft zwar das Statut der 140.000 Eisenbahner ab, nicht aber "die generelle Starrheit der Strukturen und Vorschriften", die laut dem französischen Rechnungshof hauptverantwortlich für die gigantische Überschuldung der Staatsbahn SNCF sind.

Oder Macrons Verfassungsreform: Sie reduziert zwar die Zahl der Abgeordneten von 577 auf 404 und verwirklicht damit ein populäres Wahlkampfversprechen. Intakt bleibt aber die demokratisch bedenkliche Allmacht des Staatschefs und der Exekutive, die der Justiz und dem Parlament Vorgaben machen und damit regelmäßig die Gewaltenteilung verletzen.

Auch die Banlieue-Problematik greift Macrons nicht frontal an, die Migrationsfrage nur indirekt. Die 35-Stunden-Woche lastet schwer auf der Wirtschaft, die Staatsschuld steigt weiter.

Sogar seine Wähler verhehlen nicht, dass sie sich dem fremdwortversessenen Eliteschulabsolventen nicht besonders nahe fühlen. Macron ist zu sehr Manager, zu wenig Landesvater. Er hat die Herzen der Franzosen nie richtig erobert. Gewählt wurde er, weil er Frankreich vor der Extremistin Marine Le Pen bewahrte, und unterstützt wird er, weil er die alte Nation auf Trab bringt.

Viele halten ihn für arrogant und dünkelhaft, seitdem er über "analphabetische" Arbeiterinnen und über "Faulpelze" lästerte oder erklärte, er kreuze im Bahnhof manchmal Leute, die "nichts sind". Sein "Gefühl der intellektuellen Überlegenheit" (so Le Figaro) ist für ihn nicht ungefährlich: Die französischen Citoyens, die, historisch bedingt, zwischen Wahlmonarchie und Königsmord schwanken, machen daraus gerne eine politische Unterlegenheit.

Was sie aber anerkennen: Frankreich spielt dank Macron wieder eine internationale Rolle. Seine Anbiederung an Donald Trump stört sie deshalb nicht über Gebühr. Denn gleichzeitig billigen sie ihm die Intelligenz und Eleganz Barack Obamas zu. Von ihm schaute sich der Franzose seine Wahlkampfmethoden ab. Und auch Macron ist ein Polittalent und Kommunikationsprofi, mit einem jungen, kreativen Berater-Staff.

Exakt ein Jahr nach Macrons Amtsantritt schiebt sich eine Frage in den Vordergrund: Hat er mehr Talent als Tiefe, mehr Geschmeidigkeit als Substanz? Parteipolitischen Überzeugungen fühlt er sich jedenfalls nicht verpflichtet. La République en Marche und ihr gelegentliches Aufmucken erscheinen ihm so lästig wie der Hof dem König. Oder dem Göttervater Jupiter, wie er sich selbst auch schon bezeichnete.

Der höhere Ruf

Denn Macron verspürt einen höheren Ruf, er hat die gleiche Mission wie einst Jeanne d’Arc: die Rettung Frankreichs, seine Auferstehung, sein "rayonnement" (Ausstrahlung). Diese Mission ist für Macron wichtiger als Parteizugehörigkeit oder politische Substanz.

Macron glaubt felsenfest an seine Sendung für Frankreich, das heißt, für "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Der Präsident will das Land liberalisieren und gleiche Spielregeln für alle schaffen. Deshalb kappt er die Privilegien der Eisenbahner, deshalb tritt er für echte Chancengleichheit der Frauen im Berufsleben oder der nordafrikanischen Immigrantenjugend bei der Job- und Wohnungssuche ein; deshalb ist er weder rechts noch links, sondern für alle da.

Wird er reüssieren? Zumindest Macron zweifelt nicht an sich. "Wo der Wille groß ist, können die Schwierigkeiten nicht groß sein", sagt er frei nach Niccolò Machiavelli, über den er seine Diplomarbeit verfasste. Frankreichs Renaissance ist nach einem Jahr Macron keineswegs vollendet. (Stefan Brändle, 5.5.2018)