Immer wieder polarisieren Schriftsteller mit streitbaren Reden die Öffentlichkeit: Polemiken von Peter Handke über Thomas Bernhard bis hin zu Josef Winkler gingen in die Annalen des Landes ein. Ob auch Köhlmeiers Rede das Zeug dazu hat, darüber ist sich die STANDARD-Kulturredaktion nicht einig.

"Erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle." Mit diesen Worten leitete Michael Köhlmeier seine Rede ein.
Foto: Heribert Corn

Stefan Gmünder

Hoffnung, sagte Ruth Klüger unlängst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, mache untätig und feige, Verzweiflung hingegen stark. In dem langen Gespräch thematisiert die aus Wien gebürtige, in den USA lebende Autorin und Germanistin, die zwei Konzentrationslager überlebte, auch jene "Jauche der Vergangenheit", die nicht aufhört, an die Oberfläche zu kommen.

Da jede Zukunft eine lange Vergangenheit hat, drehten sich in der Nachkriegszeit die größeren von Autorenreden ausgelösten Debatten stets um den Umgang mit Erinnerung im Allgemeinen und dem Umgang mit der NS-Zeit im Besonderen. Beispiele dafür mögen Martin Walsers berüchtigte Friedenspreisrede 1998 oder Dürrenmatts Abrechnung mit dem Geschichtsverständnis der Schweiz im Jahr 1990 sein. Walser hatte damals das Berliner Holocaust-Mahnmal als fußballfeldgroßen Albtraum bezeichnet, der nicht ein Maßstab des Gewissens sei, sondern bloß "Gegenempfindungen" wecke. Sein Schweizer Kollege ging es in seiner Rede differenzierter, aber nicht weniger drastisch an, indem er die Schweiz als ein in der Blase der Geschichtslosigkeit eingesperrtes Land skizzierte – und als einziges Gefängnis der Welt, dessen Insassen gleichzeitig ihre eigenen Wächter seien.

Hat nun auch Österreich mit Köhlmeiers Rede solch einen Meilenstein des öffentlichen Diskurses? Eher nicht. Auch Köhlmeier sprach vergangenen Freitag in seiner sechseinhalb Minuten langen Rede anlässlich des Gedenkens des österreichischen Parlaments an die Opfer des Nationalsozialismus von verdrängter Erinnerung und von Wut. Allerdings war seine Rede weit weniger differenziert und komplex aufgebaut als die erwähnten Beispiele. Das mag auch einer gerade in Österreich dem Anlass gebührenden Klarheit und Eindeutigkeit der Position geschuldet sein.

Dass sein Beitrag die Rezeption in zwei Lager spalten würde, die sich reflexhaft auf die Positionen des Rechthabens zurückziehen, nahm der Autor, der ohnehin nie einen Zweifel über seine Meinung zu Fremdenhass, Chauvinismus und eine Das-Boot-ist-voll-Mentalität aufkommen ließ, in Kauf. Die Möglichkeiten der Literatur, Grauzonen anzudeuten und Verbindungen zwischen den Sphären des Politischen, Individuellen, Sozialen und Wirtschaftlichen zu knüpfen, hat Köhlmeier anders als in seinen Romanen in der Rede nicht ergriffen. Die "Jauche der Vergangenheit" sprudelt nicht nur in Österreich, das hat Gründe, über die sich einmal nachzudenken lohnen würde.

Über kurz oder lang, sagte Albert Camus in einer Rede 1957, habe der Schriftsteller ein dem Schmerz und der Freiheit des Menschen verpflichteter Freischärler zu sein – abseits der regulären Truppen. Michael Köhlmeier hat diesmal seine Rede als engagierter Staatsbürger gehalten, wer den Autor vermisst, findet ihn in seinen Büchern. (Stefan Gmünder, 8.5.2018)

Ronald Pohl

Thomas Bernhard hatte gesprochen an diesem 4. März 1968. Der Unterrichtsminister, Theodor Piffl-Perčević von der damals allein regierenden ÖVP, hatte aus Anlass einer Staatspreisverleihung ein paar skizzenhaft anmutenden Sätzen lauschen dürfen. Darüber, dass alles "lächerlich" sei, wenn man an den Tod denkt. Dass "wir Österreicher" sind, "apathisch". Thomas Bernhard: "Wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben."

Piffl-Perčević schlug beim Verlassen des Festsaals die Tür krachend hinter sich zu. Bernhards Rede, die in sehr rätselhaften Wendungen auf die heimische Lebenswelt Bezug nahm, wurde vom politisch Verantwortlichen als Affront aufgefasst. Das Dichterwort erreichte das Ohr der Macht als Störgeräusch, als Provokation auf einer (für Piffl-Perčević) falschen Schwingungsebene.

Thomas Bernhards Artikulation eines tiefsitzenden Unbehagens erklang vor 50 Jahren. Sie gilt heute mit Recht als Beleg für das von vornherein getrübte Verhältnis zwischen (symbolischem) Dichterwort und realpolitischer Macht. Mit dem Ende der Naziherrschaft 1945 wurde in Österreich eine neue demokratische Öffentlichkeit hergestellt. Personell bedeutete das häufig genug nur ein Comeback alter, auch ständestaatlicher Seilschaften.

Viele der in Äther und Presse geäußerten Ansichten repräsentierten das von Nazige sinnungsresten notdürftig gereinigte Österreich. Doch sehr oft spiegelten sie bloß die alte Rückständigkeit wider. Gegenüber Autoren, die sich emphatisch der Sache des Fortschritts verschrieben, trat der Staat selten als Förderer auf. Seine Vertreter gerierten sich als Gönner oder, bei ästhetischer Zuwiderhandlung, als Ordnungsstifter. Dankesredner wie Thomas Bernhard nutzten die Freiheit des Mandats, um auf Einengungen in der staatsbürgerlichen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen.

Die heimische Tradition der literarischen Einlassung auf die Wirklichkeit ist kaum je direkt. Aus Zerknirschung über den Stand der Dinge traten an die Stelle kunstvoller Rhetorik: die Polemik, der Wut- und Angstschrei. Was vermögen Worte gegen Vertreter einer Autorität, die der Sprache der Aufklärung von vornherein misstraut?

Mit dem politisch begünstigten Aufblühen des Zeitungsboulevards verschob sich frühzeitig die Definitionshoheit in der Öffentlichkeit. Die Krone begleitete die Moderne, indem sie in den 1960ern offen das Eingreifen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Psychiatrie forderte, um Aktionisten und Konsorten das Handwerk zu legen. An der Intelligenz gingen solche Kampagnen nicht spurlos vorüber. Viele ihrer klügsten Vertreter meinten, die Kontinuität gestriger Gesinnungen zu verspüren. Eine Rede wie die jüngst von Köhlmeier gehaltene gleicht daher einer Notwehrhandlung. Noch für sie gilt die Paraphrase auf Rilkes Wort: Wer, wenn er nicht schriee, hörte überhaupt auf ihn? (Ronald Pohl, 8.5.2018)