In der beinahe menschenleeren Landschaft fern der größeren Städte fallen die zahlreichen temporär errichteten Bauten ins Auge, die entweder touristischen Zwecken dienen oder als vorübergehende Behausungen für Menschen, die im Sommer an die Küste kommen, um sich dort einen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Strandbuden und notdürftig errichteten Gebäude, albanisch kioskë genannt, repräsentieren eine vielschichtige Improvisationskultur, die auf den turbulenten Übergang vom stalinistischen Überwachungsstaat zu ungezügelter Marktwirtschaft und schwacher staatlicher Ordnung verweist. Auf einer Winterreise entlang der albanischen Küste entstand die Idee, diese Behausungen und die Geschichten dahinter im visuellen Forschungsprojekt "Kioske – temporäre Architektur an der albanischen Küste" festzuhalten.

Im Nationalpark Divjakë-Karavasta, Albanien 2015.
Foto: Robert Pichler

Albaniens Erbe restriktiver Mobilitätspolitik

Das sozialistische Albanien war nicht nur nach außen hin abgeschottet, sondern auch im Inneren strengsten Mobilitätskontrollen unterworfen. Der Tourismus beschränkte sich auf wenige Orte, an denen privilegierte Arbeiterinnen und Arbeiter in abgeriegelten Resorts zu ausgewählten Zeiten ihre Ferien verbringen durften. Selbst jenen Menschen, die an der Küste lebten, war der Zugang ins Meer untersagt. Die streng überwachte und abgeriegelte Grenzzone erstreckte sich über die gesamte albanische Adriaküste. Eine positive Folge dieser paranoiden Grenzüberwachung war die Bewahrung der Unberührtheit dieser vielschichtigen Küstenlandschaft, die über weite Abschnitte nur geringfügigen Interventionen unterworfen worden war.

Militäranlage in Porto Palermo, Albanien 1996.
Foto: Robert Pichler

Das Ende des Systems, der Anfang des Tourismus

Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1991 brachte in Albanien nicht nur das autoritäre Regime, sondern auch die bereits extrem marode, auf Autarkie begründete Ökonomie zum Einsturz. Der abrupte Rückzug des Staates aus beinahe allen Lebensbereichen führte zu einem Massenexodus aus den Bergen in die Städte und an die Küste, von wo viele versuchten über die Adria nach Italien zu entkommen. Die Küstengebiete wurden in kurzer Zeit zu einem neuen Lebensraum für Hundertausende und Hafenorte wie Durrës, Vlora und Saranda entwickelten sich zu wildwachsenden Siedlungskonglomeraten.

Die Erschließung der Küste ging mit ihrer touristischen Nutzung einher. Mit Investitionen aus dem Ausland schossen unzählige Hotelbauten entlang weitläufiger Strand- und Küstengebiete in Stadtnähe in die Höhe. Aber auch die entlegeneren Gebiete, die bisher spärlich oder nicht bewohnt waren, wurden von Zuwanderern in Besitz genommen und als Überlebensraum genutzt. Mangels ökonomischer Strukturen und nachhaltiger kommunaler Planung entstand eine vielfach wildwüchsige neue Architektur, die sich an individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen orientierte, ohne Bedachtnahme auf darüber hinausgehende kommunale, soziale und ökologische Gegebenheiten.

Ein Fischer in seiner Unterkunft in Vain, Albanien 2017.
Foto: Robert Pichler

Architektur und Lebensweise an der Küste

"Kioske" thematisiert diesen turbulenten, auf vielfältiger Improvisation basierenden Prozess des sozioökonomischen und kulturellen Wandels anhand eines detaillierten Blickes auf die Architektur dieser Bauten und die dahinterliegenden sozialen Gegebenheiten. Die Bauweise, das verwendete Material, die Positionierung und Dimensionierung, die stilistischen Elemente und die farbliche Gestaltung, all das verweist auf ein im Mittelmeerraum einzigartiges Potpourri an "lebendiger Architektur", die (noch) nicht aus einem Guss ist und dem Plan einer übergeordneten Institution oder eines kollektiven Willens unterworfen wurde. Oft sind es rasch gezimmerte Hütten, die im Sommer als Ausschank dienen, manchmal gemauerte Gebäude, die auch als Wohnraum genutzt werden und Dauerhaftigkeit und Ortsverbundenheit vermitteln. Abseits der Küstenmetropolen ist es aber noch nicht die normierte, marktorientierte Ästhetik touristischer Architektur, sondern die schöpferische Improvisation von Menschen, die versuchen, diesen neuen Lebensraum mit ihren zumeist bescheidenen Mitteln neu zu gestalten.

Kiosk in Divjakë, Albanien 2015.
Foto: Robert Pichler
An der Mündung des Shkumbin-Flusses, Mann beim Holzeinholen, 2015.
Foto: Robert Pichler
Kiosk in Divjakë, Albanien 2017.
Foto: Robert Pichler

Die Gebäude und Orte werden außerhalb der Saison systematisch erkundet, denn gerade jene Phase ihrer Nicht-Nutzung, ihrer Funktionslosigkeit, verdeutlicht den vorübergehenden Charakter und die Fragilität ihrer Existenz. Über die Auseinandersetzung mit diesen Bauten hinausgehend, werden in einem komplementären Verfahren die Menschen, die diese Küstengebiete im Winter bewohnen, anhand von lebensgeschichtlichen Interviews porträtiert. Der Alltag von Fischern, Bauern, Aufsehern, Bauarbeitern, Gestrandeten und Menschen, die keine Aussicht mehr auf ein geregeltes Einkommen haben, wird auf diese Weise in die Analyse einbezogen.

Kiosk am Strand von Bashtovë, 2017.
Foto: Robert Pichler
Männer beim Abtransport des angeschwemmten Mülls in Kepi i Rodonit, 2017.
Foto: Robert Pichler
Kiosk in Narta bei Vlora, 2015.
Foto: Robert Pichler

Visuelle historische Anthropologie

Die visuelle historische Anthropologie ist ein neues Feld in der Balkanforschung. Angeregt von Ansätzen der visuellen Anthropologie und Soziologie geht es ihr darum, aus der Beobachtung, der Analyse und der Theoretisierung von Bildern, Erkenntnisse zu generieren, die über Aspekte des sozialen Lebens, kulturelle Phänomene und Veränderungen im Laufe der Zeit Aufschluss geben. Zusätzlich zur Analyse vorhandener Bildquellen setzt die Bildforschung gezielt visuelle Methoden und Techniken (Film, Fotografie, Malerei) ein, um materielle, immaterielle und konzeptionelle Zusammenhänge sichtbar und damit besser begreifbar zu machen. Sie erstreckt sich somit von der Erforschung vorgefundener visueller Quellen bis zur Herstellung visueller Daten durch den Forscher oder durch Personen im Feld (photovoice). Außerdem werden Bildquellen gezielt dazu verwendet, Erinnerungen auszulösen und Informationen, die sonst im Verborgenen bleiben, hervorzuholen (visual elicitation).

Kanal bei Karavasta, Albanien 2015.
Foto: Robert Pichler
Fischfang, Karavasta 2015.
Foto: Robert Pichler
Diese Frau ist mit ihrer Familie aus einem entlegenen Bergdorf an die Küste gezogen, Velipojë 2015.
Foto: Robert Pichler
Kiosk an der Straße nach Orikum, 2015.
Foto: Robert Pichler

An der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst

"Kioske" basiert auf der Methode der gezielten Herstellung von Bildern zur Analyse sozialer und ökonomischer Transformationsprozesse in Albanien. "Kioske" ist aber auch an der Schnittstelle zur kreativen Fotografie angesiedelt. Eine Serie der Bilder wurde in Graz, im Österreichischen Kulturforum Zagreb und seit April im Kulturzentrum Řehlovice in Tschechien ausgestellt. (Robert Pichler, 16.5.2018)

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