Die zuletzt hier beschriebene Trainingsreise war in Klagenfurt lange nicht zu Ende. Und hätte uns eigentlich noch woanders hin führen sollen. Aber die Fahrerei nach Zadar, zum dortigen Wings for Life Run, dem lokalen Triathlon und ein paar feinen, sonnigen Trails im kroatischen Hinterland, war uns dann letztlich doch zu weit. Zurück nach Wien wollten wir aber auch nicht.

Und weil (mit etwas Schummeln) auf halbem Weg zwischen Kärnten und daheim der Seewinkel liegt, schauten wir dort vorbei, wo ich schon lange laufen wollte: im "Laufpark Neusiedler See". Die Region im ebenso abgelegenen wie traumhaft schönen östlichsten Eck Österreichs nennt sich schließlich "Österreichs größte Laufarena". Zu Recht: Hier gibt es knapp 50 ausgeschilderte Laufrouten mit mehr als 380 Laufkilometern.

Foto: thomas rottenberg

Von neun Startpunkten aus kann man da nach Herzenslust und schier endlos und pannonisch rennen (oder wandern, "walken" und spazieren). Die bekannteste Route ist wohl bei Podersdorf: den Neusiedler See entlang zur "Hölle". Die Laufstrecke macht ihrem Namen beim traditionsreichen Austria Triathlon alle Ehre – ist aber, wenn nicht am letzten Drücker gerannt, vor allem schön. Weniger bekannt, aber nicht weniger malerisch sind die anderen Strecken. Etwa von Illmitz nach Apetlon. Oder zum tiefsten (überirdischen) Punkt Österreichs. Oder zur Basilika von Frauenkirchen. Oder rund um die Lange Lacke (hier im Bild): jeder Schritt ein Traum. In einer unterschätzten Landschaft, in der sogar deklarierte Nichtnaturkundler wie ich wieder Schauen, Staunen und Schönfinden lernen.

Nur eines gibt es hier nicht: Hügel. Die ersetzt (manchmal) der Wind.

Foto: thomas rottenberg

Um es vorweg zu sagen: Nach der sauberen und freundlichen, aber aufs Wesentliche reduzierten Nüchternheit unseres Quartiers in Cesenatico und dem schlichten, funktionalen Hotel in Klagenfurt entschieden wir uns nun für die Luxusversion eines Basislagers für ein paar Trainingstage. Das "erste Haus am Platz" ist im Seewinkel die St.-Martins-Therme & Lodge. Ich kenne den PR-Agenten der Lodge aus seinem und meinem früheren Leben in der "seriösen" Politikberichterstattung.

Doch im Gegensatz zu Politik und anderen offiziell "sauberen" Regionen der Medienwelt, in denen alle Beteiligten so tun, als gäbe es weder Einladungen noch Freundschaftsdienste oder Absprachen, spielt man im Reise- und Lifestylebereich mit offenen Karten: Wir bekamen einen Sondertarif. Das ist branchenüblich – und geschieht nicht aus "alter Freundschaft", sondern aus klar artikulierten Überlegungen: "Du freust dich, dass du hier tun kannst, was du tun willst – und wir freuen uns, wenn das jemand tut, der genau die Zielgruppe, die wir ansprechen wollen, erreicht."

Foto: thomas rottenberg

Denn die regionalen Touristiker – nicht nur die des Luxusresorts – haben mittlerweile erkannt, was ja auch in Italien oder in Istrien längst Thema ist: Sport ist ein boomender Markt. Aber Jedermann- und -frausportler wollen gezielt und punktgenau angesprochen werden. Laufrouten hat mittlerweile jeder Ort und jedes Hotel. Und wenn auf den Wegweisern nicht "Run" steht, greift der schlaue Rezeptionist auf Nachfrage in seine Schublade – und holt eben ein paar Wander- oder "Walking"-Routen heraus.

Foto: thomas rottenberg

Im Grunde genügt das für 85 und mehr Prozent des Publikums vollauf. Dennoch verkauft man sich in der Epoche des Fitness- und Selbstoptimierungskultes besser, wenn man was drauflegen kann: Radfahren und Schwimmen etwa. Yoga und Stand-up-Paddeling. Kitesurfen. Meinetwegen auch Extrem-Minigolf. In der Kommunikation aber bitte in der Action-Variante. So wie beim Skifahren: Auch wenn sich kaum ein normaler Gast ins Gelände jenseits der Pisten wagt (und das auch gut ist), wird der Traum vom weißen Glück heute ausschließlich über wilde Bilder in stiebendem Powder transportiert.

Foto: thomas rottenberg

In den Seewinkel zurückübersetzt heißt das: Auch wenn man hier perfekt gechillt radwandern, plantschen, Vögel beobachten und "joggen" kann, werden potenzielle, sich selbst für sportlich haltende Gäste zwar E-Bike-Gemütlichkeit und Storchennest-Idylle genießen, aber von Rennraddynamik und Ähnlichem alert gemacht.

Foto: thomas rottenberg

Die St.-Martins-Lodge ist da ein Paradebeispiel: Der hoteleigene Badeteich ist in der Theorie ein idealer Spielplatz für Open-Water-Schwimmerei (vermutlich sogar besser als der viel zu seichte, schlammige Neusiedler See). Aber obwohl da etliche Herren und Damen ihre teuren Multisportuhren beim Frühstücksbuffet ausführten, schwammen im Teich dann außer mir nur ein paar, zumeist ältere, Herrschaften. Köpfchen in der Höh und selten mehr als fünf Minuten. Voll okay, aber: Da ist mehr drin.

Foto: thomas rottenberg

Mit dem Radfahren in der Gegend verhält es sich ähnlich: Ginge es mit rechten Dingen zu, würden die "Locals" hier nicht nur auf Leo Hillingers Rennradfahrerei und ein paar "Einzeltäter" verweisen, sondern auf Trainingsgemeinschaften und Vereine zeigen, die hier in mittelgroßen Gruppen en masse unterwegs sind: Beim Podersdorfer Triathlon gurken hier zwar Tausendschaften auf teuren Tri-Bikes herum, aber um zu trainieren, fliegt man lieber nach Fuerte oder Malle, als eine Stunde mit dem Auto (oder dem Zug) gen Osten zu fahren. Verstehen muss man das nicht: Windig kann es hier wie dort sein, aber aus Freizeitsportlersicht ist der See- erstaunlicherweise auch ein toter Winkel.

Foto: thomas rottenberg

Vermutlich liegt das ja genau an der (an sich positiven) Positionierung als ruhiges, verkehrsarmes Naturschutzgebiet und Vogelkundlerparadies, hinter dem bis in die 1990er-Jahre die Welt beim "Eisernen Vorhang" endete. Naturgenuss und -wertschätzung werden (auch das ist an sich positiv) als "entschleunigte" Urlaubsqualitäten angepriesen. Doch vor lauter Freude am und Fokussieren auf das minutiöse Beobachten von Flora & Fauna übersieht man andere, schnellere Zielgruppen. Oder die Zielgruppe übersieht die Region. Schade eigentlich. Denn hier hat sogar das Radwegenetz, so es asphaltiert ist, eine Qualität, die mir am Rennrad keinen Zacken aus der Krone fallen lässt, wenn ich, statt auf der Bundesstraße von Lkws verweht zu werden, von E-Bike-reisenden älteren Herrschaften fröhlich gegrüßt werde. (Wenn es am "Iron Curtain Trail" dann schottrig rüber nach Ungarn geht und ich lieber absteige, lachen sie mich halt aus. Eh zu Recht.)

Foto: thomas rottenberg

Kurz: Eva und ich bereuten keine Sekunde, die Einladung zum Triathlon bei meinem früheren Arbeitgeber in Zadar diesmal ausgeschlagen zu haben – und all das (mit Ausnahme des Im-Meer-Plantschens), was man dort sportlich tun kann, mit einem Bruchteil des Reiseaufwands vor der Haustür erleben zu können: Verblasen kann es einen hier wie dort. Und auch wenn ich nicht zum ersten Mal im Seewinkel war, bin ich doch jedes Mal überrascht, dass es dort Anfang Mai am Vormittag so drückend schwül und heiß sein kann, dass man sich unterwegs schwört, morgen lieber vor dem Frühstück auszurücken, als sich noch einmal so weichkochen zu lassen. (Wer in Podersdorf den Triathlon machen will, sollte das erlebt haben – sowohl die Hitze als auch den Wind.)

Foto: thomas rottenberg

Unser Problem war aber der Wings for Life World Run: Der Wien-Lauf war seit Wochen ausverkauft. Zadar auch. Aber die WFL-Presseleute hatten noch zwei Anmeldecodes für Zadar aufgetrieben (die wären selbstredend zu bezahlen gewesen). Wien? Keine Chance: First come, first run.

Aber gar nicht teilzunehmen wäre eher unlustig gewesen: Erstens laufen hier alle meine Freunde. Aber zweitens finde ich es sehr okay, wenn wie hier Geld für Gutes gesammelt wird.

Drittens mag ich das Konzept der einen verfolgenden Ziellinie. Viertens stört es mich nicht, dass hier der ohnehin omnipräsente Name des Dosenkonzerns assoziiert wird: Das ist "part of the game" – aber zu versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen, ist ein gutes Spiel. Freilich: Wegschauen und Schlechtreden geht ohne Sponsoren. Ist es deshalb edel und sauber?

Foto: thomas rottenberg

Über den Freund einer Freundin eines Bekannten trieb Eva den Startplatz eines kurzfristig verhinderten Läufers auf: Im Unterschied zu vielen anderen großen Läufen ist es beim World Run kein Problem, den Startplatz dann umzuschreiben.

Eva ist den World Run noch nie gelaufen. Ich schon: letztes Jahr hatte ich mir angeschaut, wer die Menschen sind, die als erste vom "Catcher-Car" eingeholt werden – einer meiner emotionalsten Laufmomente.

Foto: thomas rottenberg

Heuer wollte ich mir die "Nebenläufe" ansehen: die sogenannten "App-Runs". Dabei handelt es sich um Läufe, die von wem auch immer an irgendeinem Ort der Welt organisiert werden und nach den gleichen Spielregeln wie die "echten" World-Run-Läufe funktionieren: Man lädt die World-Run-App herunter, startet um Punkt 13 Uhr Wiener Zeit und rennt so lange, bis einen das virtuelle Catcher-Car einholt.

Der Clou dabei ist aber, dass diese Läufe Teil der World-Run-Wertung sind: Man spendet 20 Euro, bekommt eine Startnummer zum Runterladen und das Gefühl, Teil jener Community zu sein, die da auf der ganzen Welt gleichzeitig losrennt.

Foto: thomas rottenberg

Unten in der Stadt klappte das mit dem "gleichzeitig Losrennen" ganz hervorragend. Glaube ich. Denn vermutlich wartet da alles nur auf den Startschuss und folgt dem Countdown des Platzsprechers, bis es endlich losgeht.

Foto: Eva Lillan

Bei den App-Runs kommt der Startschuss aber (eh klar) von der App. Und zwar um Punkt 13 Uhr. Und soweit ich weiß, zeigen alle Handys in einer Zeitzone exakt die gleiche Zeit an. Überprüft habe ich das aber noch nie. Wieso auch?

Umso größer war die Überraschung aller bei "meinem" App-Run, dass es am Cobenzl allem Anschein nach einige unterschiedliche Zeitzonen gibt.

Foto: thomas rottenberg

Es war natürlich nicht "mein" App-Run: Ich hatte mich nur angemeldet. So wie etwa 20 andere Läuferinnen und Läufer. Geplant hatten den Run diese zwei Herren: Matthias Plunser (rechts) und Jerry Thomas. Die beiden sind versierte Trailläufer, die unter #matsandjerry ihren Weg zum Transalpine-Run 2018 dokumentieren und wissen, was sie tun: Plunser betreibt eine Social-Media Agentur, die sich auf Trail und Kunden aus dem Sportbereich spezialisiert hat. Ihr aktuelles Projekt steckt zwar noch in den Kinderschuhen, klingt aber vielversprechend: Es ist ein wöchentlicher V-Log über Traillaufen.

Foto: thomas rottenberg

Der Trail am Cobenzl war einfach, aber nicht für alle: Gekommen waren nämlich neben Freunden von #matsandjerry zwei Gruppen. In Gelb eine tschechische Partie. Die wollte eigentlich in Pardubice laufen, aber der Lauf dort war, angeblich mangels Anmeldungen, nicht zustande gekommen. Wien war die Ausweichlocation, aber ausverkauft. Also entschied man sich für einen App-Run auf der Donauinsel.

Bloß: Der hätte die Route des "offiziellen" Laufes gekreuzt. Darum verschwand der Donauinsel-Lauf kurzfristig und überraschend aus der App-Liste und die Tschechen kamen auf den Berg. Einige hatten Trail-Erfahrung. Alle waren geübte Läufer.

Foto: thomas rottenberg

Die andere Gruppe bestand aus vier junge Apothekerinnen aus Wien und Niederösterreich. Auch sie hatten eigentlich auf der Insel laufen wollen und waren heute teils zum ersten Mal überhaupt auf dem Wiener Hausberg. Eine war im sechsten Monat schwanger. Viel Lauferfahrung hatte keine von ihnen: Eine hatte einmal bei einem Wildsau-Dirtrun mitgemacht, aber im Hügeligen wirklich gelaufen war auch sie noch nicht. Macht nix: "Das hier ist ja kein Wettkampf, wir laufen gemeinsam", sagte Matthias.

Foto: thomas rottenberg

Ganz ging das aber nicht auf. Dafür waren die Niveaus zu weit auseinander: Matthias lief also vorne mit den Tschechen, Jerry machte das Schlusslicht. Ich war in der Mitte – und froh, meinen Rucksack mit genug Wasser für eine Wüstendurchquerung aufgefüllt zu haben.

Egal: Alle liefen wacker und fröhlich, so gut sie konnten – und hatten ihren Spaß am ungewohnten Terrain und den Blicken über die Stadt.

Foto: thomas rottenberg

Die Apothekerinnen, schien mir, genossen den Lauf, ganz ohne auf die Kilometer oder das virtuelle Catcher-Car zu achten. "Das holt uns in dem Gelände doch ohnehin nicht ein", lachte eine. Ob die tschechische Gruppe nicht doch lieber mehr und schneller gelaufen wäre, habe ich aber nicht herausgefunden.

In jedem Fall kamen sie weiter als die Damen in Rot: Die Tschechen liefen dort, wo sie auf uns warteten, dann einfach auf und ab.

Ich nicht: Mein (unser) Rennen war nach 4,3 Kilometern zu Ende. Immerhin: Das ist doppelt so weit wie im Vorjahr. Und nächstes Jahr knacke ich dann vielleicht sogar die 10-Kilometer-Marke. Wo, weiß ich aber noch nicht. (Thomas Rottenberg, 9.5.2018)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien:

Der Aufenthalt in der St.-Martins-Lodge wurde von St. Martin unterstützt, der Start beim App-Run selbstverständlich selbst bezahlt.

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Foto: thomas rottenberg