Über ein Filmfestival schreiben, das ist wie noch unreife Äpfel von einem Baum rupfen. Die Früchte schmecken sauer und hinterlassen einen Pelz auf der Zunge. Eine Zunge von metaphorischer Natur.

"Echte" gab es hier zu besehen: Eine kleine silberne Kugel, vielleicht von der Größe eines Tischtennisballs, gleitet in einen geöffneten Mund und wird kurz darauf wieder von ihm ausgestoßen. Mehrmals wiederholt sich der Vorgang, und man kann teils tief in diese fremden Schlünde blicken, die Zungenkrater begutachten oder einen Karies, der sich zwischen zwei Schneidezähnen eingefressen hat.

"A" (1969) von Dieter Rühmann.
Foto: Int. Kurzfilmtage Oberhausen

"A" (1969) von Dieter Rühmann zeigt diesen Vorgang. Und die wildesten Zahnreihen, die stammen vom Filmemacher selbst – genau wie die am saftigsten geschminkten Lippen.

Von Öffnungen geprägt

Rühmanns Film reihte sich in ein Programm, das von Öffnungen geprägt war. Es gehörte zum Special "Abschied vom Kino", das zahlenmäßig neben den Wettbewerben das stärkste während der diesjährigen Kurzfilmtage war. Ganze acht Termine waren es. Und die Münder, befüllt mit dem silbernen Bällchen, die gab es in "Kunst/Aktionen" zu sehen. Doch nicht nur sie.

Auch Penisse, zu denen sich Hitler-Zitate gesellten (auch welche von Novalis, Schlegel) oder Vaginen, über denen manikürte Fingernägel kreisten. In "Nitsch – 7. Abreaktionsspiel" (1970) von Irm und Ed Sommer konnte man Hermann Nitsch dabei beobachten, wie er, begleitet von einer Blasmusikkapelle, völlig in tierischen Eingeweiden versank und zwischendrin eine an einem Kreuz gefesselte, bestrapste Frau mit einem Dildo penetrierte.

Trailer zu den diesjährigen Kurzfilmtagen in Oberhausen.
Internationale Kurzfilmtage

Provokation. 1968 und einige Jahre danach bündelte sich in deutschen Städten (Hamburg, Köln, Stuttgart, München), österreichischen (Wien) und belgischen (Knokke) eine Filmszene, die sich von etablieren Strukturen (Oberhausen) verstoßen vorkam oder tatsächlich geschnitten wurde. Eigene Vertriebsstrukturen entstanden, filmkritische Organe. Und Filme, von denen einige sehenswert waren und viele nicht. Man wurde das "Andere Kino" und bildete eine "Randnote" zur offiziellen Filmgeschichtsschreibung, wie Peter Hoffmann, Ausrichter der Reihe, es nennt.

Was man einst nicht zeigen wollte

Dass Oberhausen in diesem Jahr ein Gefäß für diese Filme sein konnte und wollte, von denen nicht wenige wahnhaft scheinen (offenbar hat es um '68 auch wirklich so etwas wie einen Wahn gegeben: die interessanteste, noch nie dagewesene filmische Anordnung vorzulegen – eine Art Wettrennen), passt zum umfänglichen Anspruch: das zeigen, was man einst nicht zeigen wollte. Aber auch das, das wichtig ist oder einmal wichtig werden könnte. Oder wichtig war und noch immer ist.

"Nacht und Nebel" (1956) von Alain Resnais.

Wie "Nacht und Nebel" (1956) von Alain Resnais, dem im neuen Programmsegment "Re-selected" zu begegnen war. Und das gleich zweimal: Zunächst in einer restaurierten Originalversion mit elegischer Sprachmelodie und vereinzelten Farbeinstichen, wenn die Erzählung (eine grausige zwar, aber dennoch eine) sich mit der Gegenwart verband – einem unschuldig anmutenden Grünteppich, gewachsen um ein Konzentrationslager.

Die zweite Version des Films war eine deutsche, die auf derlei Ästhetik verzichtete. Sie gab es nur für edukative Zwecke und in schwarz-weiß zu leihen. Der Filmtext entstammt einer Übersetzung Paul Celans und wird von einem deutschen Sprecher schlagend und zynisch vorgetragen.

Nacht und Nebel

Zwei Filme, die sich Titel und Regieangabe teilen, doch würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich auch um denselben Film handelte. Beide sind vielleicht ein bisschen "Nacht und Nebel" – die gestochene, perfekte, digitale Ausgabe. Und die von der Zeit gezeichnete, schnarrende, entfärbte Filmkopie. Ein Paradoxon ähnlich dem Schiff des Theseus.

"Nacht und Nebel" ist auch mit einem Oberhausen verbunden, das dem Auftrag nachkam, Film und Bildung miteinander zu vereinigen: "Cinema as space of alternative education". Dass der Kinosaal ein Raum für Mannigfaltiges ist – auch Luftballons, wie Peter Stiller in "This Thing Connecting Us" in der ebenfalls neuen Schiene "Conditional Cinema" zu beweisen suchte – dessen ist sich das Festival 2018 mehr als bewusst. Einige Früchte gab es unmittelbar zu ernten (was nicht heißt: genießen, Stichwort Nitsch), andere wahrscheinlich: etwas oder sehr viel später. (Carolin Weidner aus Oberhausen, 8.5.2018)