Labelbetreiberin, Produzentin, DJane, E-Musikerin, Feministin: Umtriebig ist gar kein Ausdruck für die vielseitigen Aktivitäten der Wiener Elektronikmusikerin Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo.

Foto: Markus Gradwohl

Ja, es ist tatsächlich der erste Longplayer, den Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo produziert hat. Man hätte es nicht für möglich gehalten, denn die zwischen Wien und Berlin pendelnde Elektronikmusikerin und Produzentin prägt seit gut drei Jahrzehnten die Szene mit. Electric Indigo führt das Technolabel Indigo Inc, ist als Betreiberin des feministischen Netzwerks "Female Pressure" eine Institution. Häufig spielte und spielt sie Livekonzerte und DJ-Gigs, aber an Veröffentlichungen gab es bis dato nur Singles und EPs. Warum sie sich mit ihrem ersten Album, 5 1 1 5 9 3, so lange Zeit gelassen hat? "Unsicherheit", sagt Kirchmayr. Aus dem Mund dieser selbstbewussten Anfang-Fünfzigerin wundert einen diese Antwort, die andere weniger: ein "Mangel an Gelegenheit".

Nun ist das LP-Debüt da – und wird den einen oder anderen Hörer überraschen. "Für manche Leute ist das sicher eine schwer zugängliche Musik", vermutet die Künstlerin. Denn ja: Tanzbare Beats gibt es nur bedingt, im Vordergrund stehen Klangtüfteleien in weiten Hallräumen. Zwischen Geknister und seidigen Flächen pulst es ab und zu, und ja, Drums gibt es auch, letztlich wird das Tanzbein aber dem Kopf den Vortritt lassen.

Zu den zehn Stücken des Albums "5 1 1 5 9 3" produzierte Susanne Kirchmayr jeweils selbst Videos – live wird die Platte als audiovisueller Act präsentiert.
Electric Indigo

Zwischen Technoclub und Wien Modern

Das Album, dessen Titel einem Zufallsgenerator entsprang, ist ein guter Anlass, die Biografie Kirchmayrs Revue passieren zu lassen. Es ist so etwas wie eine Synthese ihrer beiden Gesichter. Hier ist sie Technominimalistin, geschult an der Berliner Clubkultur der 1990er-Jahre, dort Künstlerin, die seit Anfang der Nullerjahre nicht zuletzt im Kontext der Neuen Musik zugange ist. "Ja, es macht mich glücklich, die beiden Stränge meines künstlerischen Schaffens zusammenzubringen."

Wie sie vom Club zur E-Musik kam? "Wie vieles in meinem Leben war das Zufall", sagt sie. 2002 lud man sie ein, mit Komponistin Mia Zabelka im Kosmos-Frauenraum aufzutreten, mit Experimentalmusikurgestein Pia Palme tauchte sie tiefer in die Materie ein. Auf deren Anregung entstanden Klanginstallationen oder – für Wien Modern – das Stück Chiffres. Es beruhte auf Audioaufnahmen von Menschen, die dazu aufgerufen waren, in ihrer jeweiligen Muttersprache zu zählen, und fand mittelbar Eingang ins aktuelle Album.

Eine Frau an den britzelnden und bratzelnden Kasteln der elektronischen Musik – dass man sich darüber in der Clubszene im Vergleich zu den 90er-Jahren heute nicht mehr wundert, ist nicht zuletzt Electric Indigo zu verdanken.
Foto: Electric Indigo

Das Rauschen im System

Tatsächlich ist 5 1 1 5 9 3 eine Arbeit mit Elementen aus ihren eigenen E-Musik-Kompositionen, die häufig nur für einzelne konkrete Aufführungen geschrieben wurden. Zum Material, das sie dabei verfremdete und neu schichtete, zählt ein symbolträchtiger Satz der britischen Philosophin Sadie Plant. Kirchmayr hat ihn auf einer gemeinsamen Podiumsdiskussion aufgeschnappt und ihm den Abschlusstrack des Albums gewidmet: "To let noise into the system is a kind of fine art." Rauschen ins System zu lassen ist eine Form schöner Kunst.

Der auf die Signaltheorie gemünzte Satz inspirierte Kirchmayr ganz unmittelbar. Das mag damit zu tun haben, dass er eine Art Leitmotiv ihrer Biografie sein könnte. Störungen ins System einzuführen ist ihr vielfach gelungen – in Soundsysteme sowieso, aber auch in festgefahrene soziale Systeme. Dies vor allem mit dem vor gut 20 Jahren ins Leben gerufenen Netzwerk "Female Pressure".

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Electric Indigo

"Wer hat das Album denn produziert?"

Anlass der Gründung war, erzählt Kirchmayr, dass Leute immer wieder darüber staunten, dass sie – als Frau! – DJ sei. "Meistens kam auch noch die Frage: Wen gibt's denn noch außer dir? Und als systematisierte Antwort auf diese Ignoranz habe ich ,Female Pressure' gegründet." Das Projekt umfasst einerseits eine Datenbank mit nunmehr 2200 Mitgliedern, andererseits eine Mailingliste, in der Künstlerinnen einander finden und vernetzen können. Mit Spezialprojekten treibt man zugleich die Gleichberechtigung an Turntables und Synthesizerkasteln voran.

Mediale Aufmerksamkeit erlangte etwa "Facts", eine laufend aktualisierte Studie zur Geschlechterverteilung in Festival-Line-ups. "Ich glaube, wir sind mit ein Grund dafür, warum das Thema 'Diversität in Clubs und Festivals' so groß geworden ist", sagt Kirchmayr. Viele positive Veränderungen habe man herbeigeführt, etwa beim Berliner CTM. "Die haben gesagt: Okay, ihr habt uns die Augen geöffnet." Zuerst habe man beleidigt reagiert, dann damit begonnen, mehr Frauen ins Programm aufzunehmen.

Das Ziel sei natürlich, sagt Kirchmayr, dass Unterfangen wie "Female Pressure" irgendwann überflüssig werden. So weit sei man aber noch lange nicht. Erst unlängst sei ihr im Gespräch mit einem alten Bekannten wieder eine Voreingenommenheit bewusst geworden, die fest in unser aller Köpfen sitzt. Sie habe ihm von ihrem Album erzählt, er sie umgehend gefragt: Wer hat es denn produziert? "Ja, das könnte als ganz neutrale Frage gemeint sein", räumt Kirchmayr ein. Aus langjähriger Erfahrung aber sieht sie die Nachfrage viel eher als Indiz dafür, dass Frauen immer noch nicht zugetraut wird, dass sie ihre eigene Musik produzieren. (Roman Gerold, 9.5.2018)